Es lohnt sich angesichts der Tatsache, dass sich die alte Eidgenossenschaft noch im 17., ja teilweise sogar bis ins 18. Jahrhundert hinein immer noch als Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation sah, einen Blick auf den Charakter und die Funktion dieser Reichsidee zu werfen.
Es gilt als erstes, sich von der Idee moderner und souveräner Nationalstaaten zu lösen. Das Reich war “transnational”. Seine Bedeutung lag zwar durchaus auch auf der politischen Ebene, aber dessen entscheidender Aspekt war heilsgeschichtlich. Bernd Marquardt:
In einem noch nicht dem Nationalitätenprinzip gegliederten Europa hatte es sich vom 9. bis 18. Jahrhundert um die ideelle Primärmonarchie gehandelt, um das nach der Staatslehre der ‚.Translatio lmperii“ niemals untergegangene einzige und ewige Römische Reich des Augustus, das singuläre Imperium im Zentrum der es umgebenden Regina (Königtümer), um das Heilige Reich als Beschützer der Christenheit, dessen Vernichtung den Antichristen erwecken würde, zusammenfassend um ein durch und durch gemeineuropäisches Herrschaftsgebilde. … Von den kaiserlichen Residenz des 14. — 18. Jahrhunderts lag keine einzige auf dem Gebiet des heutigen Deutschland. Statt mit einem einzelnen Nationalstaat deckungsgleich zu sein, erstreckte sich das Heilige Römische Reich über vierzehn heutige europäische Staaten, darunter die Schweiz.
Entscheidend war also die Idee der “Translatio Imperii”, einer der grossen voraufklärerischen sakral-politischen Entwürfe zur Deutung des Weltgeschehens. Analog dazu, dass am anderen Ende des mediterran-südasiatischen Hochkulturgürtels der Kaiser von China als „Sohn des Himmels“ galt, dem niemand ebenbürtig zu sein vermochte, führte der römisch-deutsche Kaiser nach allgemeiner Auffassung eine jahrtausendealte Weltreichstradition vom babylonischen Assyrien … üiber das achämenidisch-alexandrinische Grossreich Persien … und das römische Mittelmeerküstenreich des Augustus und Justinian fort. Der Titel eines “ewigen Augustus” war bis 1806 Teil der offiziellen Kaiseranrede. Zahllose Gesetze, Friedensverträge, Rechtslehrer und Philosophen des 13. his l6. Jahrhunderts sprachen in Superlativen von dem einen Weltreich, dem weltlichen Haupt der Christenheit, dem Kaiser der Christen usw.
Er galt als kraft göttlichen Willens den assyrischen. persischen und römischen Monarchen nachfolgender ideeller Weltbeherrscher. konkret als Vor- und Schutzherr der Christenheit. also des weströmisch-christlich-lateinischen Europa. Man sah im Heiligen Römischen Reich das letzte der vier in der Bibel geweissagten Weltreiche, den weltlichen Schutzwall gegen den Antichristen, bei dessen Erlöschen die Welt untergehen und Christi das jüngste Gericht eröffnen würde.
Die Ideenwelt der ..Translatio lmperii” war in der Eidgenossenschaft nicht weniger als in anderen Reichsregionen präsent. (Hervorhebung von mir)
Genau aus diesem Grund lag die Idee einer revolutionären Loslösung vom Heiligen Römischen Reich sowohl 1499 wie 1648 für die eidgenössischen Orte noch ausserhalb des Vorstellbaren. Als das Reich dann nach der Aera Napoleon und den Revolutionskriegen definitiv zusammengebrochen war, wurde es so rasch als möglich aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt, um das neue “Nation-Building” zu ermöglichen, — und das hatte direkte Konsequenzen für die Geschichtsschreibung:
Die sich in den Dienst ihrer jungen Nationalstaaten stellenden politischen Historie und Verfassungsgeschichtsschreibung des “langen 19. Jahrhunderts” war ganz vom Paradigma durchdrungen, ein noch gar nicht bestehendes kollektives Selbstbewusstsein werdender Staatsvölker durch geschichtliche Rechtfertigung künstlich zu erzeugen. Auch in der Schweiz ging es darum, den Zusammenhalt der durch den Integrationskrieg von 1847 ermöglichten Bundesstaatsgründung von 1848 durch historische Argumentationen nach innen und aussen zu untermauern.
Und dazu gehört zweifelsohne heute auch das konstante EU-Bashing unserer wohlbekannten innenpolitischen Akteure, die sich an das historisch völlig verzerrte Bild einer seit 1291 von Europa abgeschotteten Eidgenossenschaft klammern. Dazu passt ihre Vorliebe zu Gestalten wie Victor Orban, Matteo Salvini, Alice Weidel und Hans-Christian Strache, die ihrerseits fleissig ihre nationalen europafeindlichen Geschichtsbilder pflegen …
Es geht weiter am Freitag, den 13. August
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