… Doch zuvor wen­den wir uns in den näch­sten Fol­gen der drama­tis­chen Geschichte des frühen Chris­ten­tums und der Rolle des Thomas-Evan­geli­ums darin zu, schrieb der birsfaelder.li-Schreiberling in der let­zten Folge. Das war, wie sich her­ausstellt, ein leeres Ver­sprechen: Er hat inzwis­chen ein­fach fest­gestellt, dass er besagte — höchst kom­plexe — Geschichte und das Thomas-Evan­geli­um noch zu wenig gut ken­nt, um sie den geneigten birsfaelder.li-Leserinnen und Lesern so vorstellen zu kön­nen, dass sich keine Fehlin­for­ma­tio­nen und Fehlin­ter­pre­ta­tio­nen ein­schle­ichen. Die Ragaz/Chris­ten­tum-Gno­sis-Serie wird er deshalb zu einem späteren Zeit­punkt weit­er­führen.

Hier als vor­läu­figer Schlusspunkt doch noch eine Klärung des Wortes “Gno­sis”, das inner­halb des europäis­chen Chris­ten­tums bis vor kurzem ein ver­pöntes “Unwort” war, um das man als gläu­biger Christ am besten einen grossen Bogen machte. Die für den Schreiber­ling ein­fach­ste und stim­mig­ste stammt aus dem Buch “The Gospel of Thomas: Where Sci­ence Meets Spir­i­tu­al­i­ty” von Lee & Steven Hager:
Seit der Ent­deck­ung der gnos­tis­chen Evan­gelien in einem Tonge­fäß im ägyp­tis­chen Nag Ham­ma­di im Jahr 1945 ist die Gno­sis zu einem pop­ulären The­ma gewor­den. Und wie bei allen pop­ulären The­men haben sich schnell wider­sprüch­liche Infor­ma­tio­nen über Gno­sis und die gnos­tis­chen Evan­gelien ange­sam­melt. Derzeit wird Gno­sis mit allem Möglichen in Verbindung gebracht, von magis­chen bis zu meta­ph­ysis­chen Ideen, von Astral­reisen bis zu außerkör­per­lichen Erfahrun­gen. Tat­säch­lich aber ist Gno­sis ein Konzept, das für spir­ituell Suchende seit Jahrhun­derten eine weitre­ichende Bedeu­tung hat.

Gno­sis ist ein altes griechis­ches Wort, das eigentlich “Wis­sen” oder “Erken­nt­nis” bedeutet, aber es ist nicht die Art von Erken­nt­nis, die wir durch intellek­tuelle Bemühun­gen erlan­gen. Diese Form des Wis­sens ist erfahrungs­be­zo­gen; sie entste­ht durch eine direk­te, per­sön­liche Erfahrung. Fahrrad­fahren ist eine Erfahrung. Jemand anderes kann Ihnen sagen, wie man fährt, Sie kön­nen Anleitun­gen lesen oder anderen beim Fahren zuse­hen, aber Sie wer­den nur dann “wis­sen”, wie man fährt, wenn Sie die Erfahrung machen. Wenn Sie dieses “Wis­sen” erlangt haben, wer­den Sie das Fahrrad­fahren ver­ste­hen, aber es wird Ihnen unmöglich sein, Ihr “Wis­sen” auf jemand anderen zu über­tra­gen. Sie kön­nen das Gle­ichgewicht und den Schwung beschreiben, die notwendig sind, um das Fahrrad in Bewe­gung zu hal­ten, aber Ihre Worte wer­den nicht effek­tiv­er sein als die, die ver­sucht haben, es Ihnen beizubrin­gen.

Das Wort Gno­sis kann auf alles angewen­det wer­den, was unsere direk­te, per­sön­liche Erfahrung erfordert, um es zu ver­ste­hen. Im rein­sten Sinne bedeutet es jedoch eine direk­te, per­sön­liche Erfahrung der göt­tlichen Gegen­wart. Die meis­ten von uns sind darauf kon­di­tion­iert wor­den zu glauben, dass wir uns dem Göt­tlichen durch einen Ver­mit­tler wie Jesus näh­ern müssen. Aber Jesus und alle anderen spir­ituellen Meis­ter bezeu­gen, dass jed­er das Recht und die Fähigkeit hat, dem Göt­tlichen direkt zu begeg­nen. Dieses Konzept ist als die immer­währende Philoso­phie bekan­nt, und die Gno­sis spielt darin eine wesentliche Rolle. Die immer­währende Philoso­phie ist ein gold­en­er Faden des spir­ituellen Denkens, der sich in den let­zten fün­fundzwanzig Jahrhun­derten durch prak­tisch alle Kul­turen, Epochen und Regio­nen der Welt gezo­gen hat.

Obwohl sie viel mehr enthält, fasst Aldous Hux­ley in seinem Buch “The Peren­ni­al Phi­los­o­phy” die wichtig­sten Konzepte der Philoso­phie auf einige wenige Grundgedanken zusam­men:
Es gibt einen göt­tlichen Grund, der das Uni­ver­sum durch­dringt.
● Die Welt, die wir zu sehen glauben, ist eine vorüberge­hende Pro­jek­tion, die diesem göt­tlichen Grund entspringt.
● Ein Bewusst­sein­swan­del ist erforder­lich, um sich des Göt­tlichen bewusst zu wer­den und es zu erfahren.
● Jed­er hat die Fähigkeit, das Göt­tliche zu erfahren.
● Das Göt­tliche zu erfahren ist der höch­ste Zweck des Lebens.

Ein­fach aus­ge­drückt, durch­dringt lebensspendende Intel­li­genz alles in der Exis­tenz. Diese Intel­li­genz will erkan­nt wer­den und kann erkan­nt wer­den, und Gno­sis ist das Mit­tel, das wir alle nutzen kön­nen, um dieses Wis­sen zu erlan­gen.

Vie­len der weit ver­streuten Grup­pen und Grüp­pchen, die in den ersten Jahrhun­derten von der sich langsam formieren­den “ortho­dox­en”, also “recht­gläu­bi­gen” Kirchen ver­fol­gt wur­den, würde man heute das Etikett “gnos­tizis­tisch” anhän­gen. Deshalb hier noch der Hin­weis auf den Unter­schied zwis­chen “gnos­tisch” und “gnos­tizis­tisch”:
Das Wort Gnos­tizis­mus stimmt nicht mit der Def­i­n­i­tion von Gno­sis übere­in. Wenn wir das Suf­fix “ism” an ein Wort anhän­gen, beschreibt es eine bes­timmte Dok­trin, The­o­rie, ein Sys­tem oder eine Prax­is wie den Katholizis­mus, das Juden­tum oder den Bud­dhis­mus. Obwohl sich Organ­i­sa­tio­nen gebildet haben, die sich selb­st als gnos­tisch beze­ich­nen, ist es auf­grund der indi­vidu­ellen Erfahrung, die im Mit­telpunkt der Gno­sis ste­ht, unmöglich, sie zu organ­isieren, geschweige denn zu insti­tu­tion­al­isieren. Gno­sis kann nicht durch eine andere Per­son, ein heiliges Buch oder ein Glaubenssys­tem erfahren wer­den. Obwohl man leicht diejeni­gen find­en kann, die etwas anderes behaupten, sagt uns das Wort selb­st, dass es bei der Gno­sis keine Dog­men, Prak­tiken, Rit­uale, Sys­teme, Regeln oder Dok­tri­nen geben kann.

Wenn wir uns entschei­den, das Wort Gno­sis zu ver­wen­den, dann ist es eher ein dynamis­ch­er spir­itueller Ansatz, ein direk­ter, per­sön­lich­er, intu­itiv­er Prozess. Wie der Autor James Hill­man sagte: “Die Intu­ition ist klar, schnell und voll­ständig. Wie eine Offen­barung kommt sie auf ein­mal und schnell.” Sie kommt zu uns durch das Herz wie durch den Ver­stand und wird von einem Gefühl des Friedens und der Klarheit begleit­et.

Am kom­menden Sam­stag bleiben wir immer­hin indi­rekt beim The­ma. Nach den Kurzbi­ogra­phien über Wil­helm Tell, Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink. Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro, Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­bach­er und Leon­hard Ragaz wer­fen wir einen Blick auf das ein­drück­liche Leben und Werk des Mannes, der das oben erwäh­nte Buch Philosophia Peren­nis schrieb: Aldous Hux­ley.

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