Seit der Entdeckung des Thomas-Evangeliums 1945 bei Nag Hammadi in Oberägypten und dessen Veröffentlichung einige Jahre später hat das Interesse von Historikern und Theologen, aber auch im breiteren Publikum, an diesem Dokument stetig zugenommen. Davon zeugt die kleine Auswahl aus der Literatur, die sich mit dem Thomas-Evangelium auseinandersetzt:
Was macht dieses Evangelium so interessant?
Im Gegensatz zu den vier Evangelien von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, die Eingang in den offiziellen Kanon des Neuen Testaments gefunden haben und die alle eine zusammenhängende Geschichte von Leben und Tod Jeshuas erzählen, besteht das Evangelium des Thomas lediglich aus 114 Sinnsprüchen, sog. Logien, die Jesus zugeschrieben werden. Ein guter Teil dieser Sinnsprüche findet sich auch in den “offiziellen” Evangelien, doch andere waren bis anhin unbekannt und erinnern in ihrer Rätselhaftigkeit oft an östliche Koans im Zen. Abgesehen von den bald einsetzenden Interpretationsversuchen schob sich auch die Frage nach dem Alter in den Vordergrund. Geht dieses Evangelium den Evangelien im Neuen Testament voraus, oder ist es später entstanden wie viele andere Schriften aus dem Fund von Nag Hammadi?
Hier ein Auszug zu dieser Frage aus dem umfangreichen und instruktiven Wikipedia-Artikel zum Thema:
Der frühestmögliche Zeitpunkt für die Entstehung des Thomasevangeliums ist das Ende des Wirkens Jesu um 30 bzw. 33 n. Chr., der späteste Zeitpunkt liegt kurz vor 200 n. Chr. … Um 230 war das Thomasevangelium an weit auseinander liegenden Orten bekannt: In Rom (laut Hippolyt) und in Judäa (laut Origenes). Innerhalb dieses Rahmens versuchen Forscher verschiedener Disziplinen, den Entstehungszeitpunkt zu ermitteln.
Fast alle Autoren verwerfen die Angabe der Schrift selbst, dass das Thomasevangelium vom Apostel Thomas geschrieben sei. Hauptargument dagegen ist die geringe Bekanntheit der Schrift und ihre spätere Ablehnung. Weitgehender Konsens besteht auch darüber, dass das Thomasevangelium letztlich auf einer mündlichen Überlieferung aufbaut. Bezüglich der Grundlage dieser mündlichen Überlieferung bestehen aber verschiedene Thesen, die zu sehr unterschiedlichen Datierungen führen.
Über die Hälfte der Logien im Thomasevangelium gehen mit synoptischen Sprüchen parallel.
(Synoptischen Evangelien (von altgriechisch σύνοοψις synopsis, deutsch ‚ein zusammen Sehen, Übersicht‘) nennt man die Evangelien der drei Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas, also das Markusevangelium, das Matthäusevangelium und das Lukasevangelium im Neuen Testament. Diese beschreiben und deuten das Leben und die Lehre Jesu aus einer vergleichbaren Perspektive. Zum besseren Vergleich der Texte hat Johann Jakob Griesbach sie 1776 erstmals für eine Zusammenschau nebeneinander in Spalten abgedruckt, eine sogenannte Synopse erstellt. Daher werden die Evangelien als synoptisch bezeichnet beziehungsweise die drei Evangelisten auch Synoptiker genannt.)
Einige Autoren sehen im Thomasevangelium eine frühe, der ursprünglichen mündlichen Tradition entspringende Quelle, ähnlich den Quellen, die für das Lukas- und das Matthäusevangelium herangezogen wurden:
Viele Jesusworte wirken sehr alt und authentisch, insbesondere die 13 Doppelparallelen zum Markusevangelium und zu „Q“; sie könnten zu den ältesten Sprüchen gehören und auf eine kurz nach Jesu Tod entstandene Sammlung zurückgehen. Sogar eine Niederschrift gleichzeitig mit der postulierten Logienquelle (also 40–60 n. Chr.) wurde erwogen. Mit einer sehr frühen Entstehung dieser Teile des Thomasevangeliums sei zu rechnen, so u. a. Klaus Berger und Gerhard Marcel Martin; nach Helmut Koester ist das Thomasevangelium im 1. Jahrhundert entstanden. Reinhard Nordsieck datiert den Text auf ca. 100–110 n. Chr.
Die Datierungsfrage ist insofern wichtig, als man bei einer frühen Entstehung davon ausgehen kann, dass es sich bei den Logien tatsächlich um authentische Aussagen Jesu handelt. Und wenn das der Fall ist, ist das Thomas-Evangelium eine höchst wertvolle Quelle, weil sie das Verständnis von Leben und Lehre Jeshuas erweitert und vertieft.
Elaine Pagels gehört zu den frühesten Religionshistoriker- :innen, die sich intensiv mit dem Thomas-Evangelium auseinandersetzten. Sie war Teil der amerikanischen Forschergruppe zum Nag Hammadi-Fund und veröffentlichte 1979 das Buch “The Gnostic Gospels”, in dem sie sich neben anderen “apokryphen” Evangelien intensiv mit dem Thomas-Evangelium auseinandersetzte, und das einen breiten Widerhall fand. 2003 folgte “Beyond Belief. The Secret Gospel of Thomas”, das 2006 auf deutsch mit dem etwas verunglückten Titel “Das Geheimnis des fünften Evangeliums. Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt” auf den Markt kam. Die Einleitung zum Buch fasst dessen Intention kurz zusammen:
Wie lautete die Botschaft von Jesus wirklich? Wie hätte sich das Christentum entwickeln können, wenn sich “die andere Seite” durchgesetzt hätte? … Das Thomas-Evangelium ist den bekannten vier Evangelien sehr ähnlich und wahrscheinlich noch früher als sie entstanden. Die geheimen Jesusworte, die es überliefert, weisen aber in eine andere, eine mystische, geradezu buddhistisch anmutende Richtung. Wie ist dieses Evangelium entstanden? Warum wurde es nicht ins Neue Testament aufgenommen? Und kann es für uns heute noch von Bedeutung sein? …
Willkommen zu einer spannenden Geschichte aus einer Zeit, als es noch kein dogmatisch festgelegtes Christentum gab, aus einer Zeit voller Hoffnung und Tragik zugleich. Pagels schreibt, dass für sie als Religionshistorikerin die Frage zu interessieren begann, wann und wie Christsein praktisch gleichbedeutend mit der Zustimmung zu einem ganz bestimmten Katalog von Glaubensartikeln wurde. Das Christentum hatte, wie ich aus dem Studium einschlägiger Geschichtswerke wusste, brutale Verfolgungen überstanden und eine über Generationen, ja über Jahrhunderte sich erstreckende Erfolgsgeschichte durchlaufen, bevor Christen die Inhalte ihres Glaubens in fest formulierte “Symbole” (griech: symbolon, lat. symbolum), d.h. Bekenntnisse fassten.
Schauen wir uns zum Schluss die ersten drei Logien des Thomas-Evangeliums an, um einen ersten Eindruck seiner Botschaften zu bekommen:
1 Das sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf. Und er sagte: “Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken.”
2 Jesus spricht: “Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet. Und wenn er findet, wird er bestürzt sein. Und wenn er bestürzt ist, wird er erstaunt sein. Und er wird König sein über das All.”
3 Jesus spricht: “Wenn die, die euch vorangehen, zu euch sagen: “Siehe, im Himmel ist das Königreich!”, dann werden euch die Vögel des Himmels zuvorkommen. Wenn sie zu euch sagen: “Es ist im Meer”, werden euch die Fische zuvorkommen. Vielmehr: Das Königreich ist innerhalb von euch und ausserhalb von euch.”
Wenn ihr euch erkennt, dann werdet ihr erkannt werden, und ihr werdet begreifen, dass ihr die Kinder des lebendigen Vaters seid. Wenn ihr euch aber nicht erkennt, dann existiert ihr in Armut, und ihr seid Armut.”
Ungewohnt …! Wir werden uns später Interpretationen solcher Logien anschauen. Doch zuvor wenden wir uns in den nächsten Folgen der dramatischen Geschichte des frühen Christentums und der Rolle des Thomas-Evangeliums darin zu. Dies wie immer am kommenden Samstag, den 5. August.
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Max Ziegler
Juli 29, 2023
Auch dieser Beitrag zum Thomas Evangelium ist wiederum sehr interessant. Vielen Dank!