C.G. Jung und Wilhelm Reich waren die beiden brillantesten und kreativsten Schüler von Sigmund Freud, aber beide brachen mit ihrem wissenschaftlichen Ziehvater, respektive wurden von ihm verstossen: C.G. Jung, weil er parapsychologische Phänomene ernst nahm, Reich, weil er ein völlig anderes Konzept zu Libido und Sexualität entwickelte als Freud.
C.G. Jung starb als anerkannter Pionier für eine Psychologie, die ihre Wurzeln in den bis dahin wissenschaftlich verfemten Gebieten der Gnosis und Alchemie hat. Seine Entdeckung des kollektiven Unbewussten und der Archetypen ist inzwischen Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins geworden.
Wilhelm Reich hingegen starb in einem amerikanischen Gefängnis. Vorwurf: Quacksalberei. Seine Werke wurden von der Food and Drug Administration verbrannt — ein im 20. Jahrhundert einmaliger Vorgang, — einmal abgesehen von den Bücherverbrennungen seiner Publikationen durch die Nazis.
C.G. Jung starb weltberühmt**, Wilhelm Reich verkannt und verlacht. Sein Werk stand aus verschiedenen Gründen quer in der damaligen wissenschaftlichen und politischen Landschaft. Zwar war er indirekter Inspirator für das berühmte Summerhill-Schulexperiment seines Freundes A.S. Neill, und die bioenergetischen Körpertherapien von Alexander Lowen und John Pierrakos bauen direkt auf seinen Erkenntnissen auf, aber Reich selber geriet im Laufe seines Lebens immer mehr ins gesellschaftliche und wissenschaftliche Abseits.
Dabei hatte er als junger Psychiater, der sich in Wien und später in Berlin selbstlos um sexualhygienische Fragen in den damaligen Arbeiterunterschichten kümmerte, mit seinen Büchern wie “Charakteranalyse”, “Die Funktion des Orgasmus” und “Massenpsychologie des Faschismus” die Anerkennung weiter Fachkreise gefunden.
Doch dann geschah etwas, das ihn plötzlich zu einer wissenschaftlichen Unperson werden liess: Er behauptete, eine unbekannte Energie, eine Lebenskraft, die er Orgon nannte, wissenschaftlich nachweisen zu können. Dazu kam, dass er gleich von zwei politischen Kräften hasserfüllt verfolgt wurde: Von den Nationalsozialisten, weil er Jude war, von den Kommunisten, weil er, der anfangs der der russischen Revolution gegenüber positiv eingestell war, sich angewidert vom brutalen kommunistischen Regime Stalins abgewandt hatte. Seine Flucht führte ihn vorerst nach Skandinavien, schliesslich in die USA, wo er ein Institut zur Erforschung des Orgon aufbaute und neuartige Therapien entwickelte.
Reich war fast sein ganzes Leben ein radikaler Agnostiker und betrachtete Religion als Hindernis für eine freie, selbstbestimmte Existenz. Sonst hätte er vielleicht realisiert, dass das Konzept einer Lebensenergie in vielen Kulturen und Religionen als selbstverständlich vorausgesetzt wurde und noch wird. Drei Beispiele:
— “Chi” oder “Qi“im chinesischen und japanischen Kulturraum.
Nach Auffassung der Kultur des Alten China und des Daoismus durchdringt und begleitet das Qi als fließende Lebenskraft alles, was existiert und geschieht. Stillstand des Qi ist gleichbedeutend mit Tod.
Als Substanz, aus der das ganze Universum sowohl in physischer als auch geistiger Hinsicht besteht, wird es vorgestellt als vitale Energie, Lebenskraft oder eines alles durchdringenden kosmischen Geistes, ist dabei aber weder physischer noch geistiger Natur. In einer sich ständig verändernden Wirklichkeit stellt das Qi die einzig konstante Größe dar. (Wikipedia)
Prana im Hinduismus:
(Sanskrit, m., प्राण, prāṇa, Lebensatem, Lebenshauch) bedeutet im Hinduismus Leben, Lebenskraft oder Lebensenergie. Prana ist vergleichbar mit Qi im alten China, Ki in Japan oder dem tibetischen Lung. (Wikipedia)
Orenda bei den Haudenosonee/Irokesen:
Orenda ist der irokesische Name für eine bestimmte spirituelle Energie, die den Menschen und ihrer Umgebung innewohnt. Es ist eine “außergewöhnliche unsichtbare Kraft, von der die irokesischen Ureinwohner glaubten, dass sie in unterschiedlichem Maße alle belebten und unbelebten natürlichen Objekte durchdringt, als eine übertragbare spirituelle Energie, die nach dem Willen ihres Besitzers ausgeübt werden kann. (Wikipedia)
Doch auch bei uns im Westen blieb das Konzept trotz des fortschreitenden materialistischen Weltbildes nicht ganz vergessen:
So postulierte Franz Anton Mesmer im 18. Jhdt. die Existenz des animalischen Magnetismus, Karl von Reichenbach und Johannes Greber im 19. Jhdt. die Existenz von Od,
Dass die Erfahrung einer spirituellen Lebensenergie auch im Christentum über die Jahrhunderte hinweg bezeugt wurde, sei nur am Rande erwähnt. Ein eindrückliches Beispiel einer solchen Erfahrung aus der letzten Zeit finden wir bei Alfons Rosenberg oder in den Wunderheilungen durch Niklaus von Flüe. Auf entsprechende Erfahrungen von Bede Griffiths werden wir noch zurückkommen.
Gegen Ende seines Lebens begann sich der spirituelle Horizont Reichs zu erweitern. Er betrachtete Giordano Bruno als ideales Beispiel für einen scheuklappenfreien Wissenschaftler und die Gestalt Jesu von Nazareth als paradigmatisches Beispiel für einen wahrhaft freien, voll entwickelten Menschen. Ihm widmete er eines seiner letzten berührenden Werke, “The Murder of Christ”.
Reichs Werk wurde und wird auch heute noch kaum gewürdigt oder total missverstanden, wie das Beispiel der berühmt-berüchtigten AA-Kommune des Aktionskünstler Otto Mühl deutlich macht. Aber die Forschung dazu geht weiter, z.B. im Institute for Orgonomic Science in New York.
In der nächsten Folge vertiefen wir uns erneut in das Buch “A New Vision of Reality” von Bede Griffiths.
** Hätte C.G. Jung das Rote Buch schon zu seinen Lebzeiten veröffentlicht, wäre ihm wahrscheinlich das gleiche Schicksal wie Reich beschieden gewesen.
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