Diese “wahre Geschichte der westlichen Zivilisation” liest sich aus dem indigenen Blickwinkel nicht sehr erfreulich. John Mohawk sieht zum Beginn der Neuzeit einen Wendepunkt hin zu einer aggressiven und intoleranten Expansion. Es sei kein Zufall, dass die Fahrt des Kolumbus 1492 und die Vertreibung der Juden aus Spanien im gleichen Jahr stattgefunden habe.
Eine weitere Folge der utopischen Ideologie, dem “Grundübel weissen Denkens”, sei
die Kampagne gegen die Magie während der dreihundert Jahre ab etwa 1450. Personen, die eine spirituelle Beziehung zu Pflanzen oder Tieren unterhielten, wurden als Magieanwender betrachtet. Im 16. Jahrhundert glaubte man, diese Menschen hätten sich von Christus losgesagt und stünden mit dem Teufel im Bunde, der ihnen im Gegenzug die Kräfte der Natur versprochen habe, die sie dann gegen ihre Feinde einsetzten.
Auch in Neuengland herrschte der Glaube vor, dass Menschen, die sich der Kräfte der Natur bedienten, ihre Magie vom Teufel bekämen: Wenn John Mason oder Cotton Mather gegen die Praktiken der Indianer wetterten, wetterten sie in Wirklichkeit gegen die Natur als böse Macht, eine böse Macht, die es zu kontrollieren, zu überwinden und auszurotten galt.
Hexen wollten nicht zugeben, dass sie Magie benutzten, also war ein gewisses Maß an Zwang erforderlich, und die Inquisition wurde erfunden, um Menschen in Kerker zu zerren und ihnen die Gliedmaßen zu verdrehen, bis sie gestanden und sogar ihre Nachbarn nannten, die dann hergebracht und ähnlich behandelt wurden. Das war der Beginn der Hexereiprozesse, an denen übrigens zumeist Frauen beteiligt waren. Einigen Berichten zufolge wurden in drei Jahrhunderten Millionen von Menschen angeklagt, gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Mohawk übernimmt hier eine Zahl, wie sie in den 70er und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts kursierte. Sie wurde inzwischen massiv nach unten korrigiert:
Insgesamt wurde in Europa im Zuge der Hexenverfolgung geschätzt drei Millionen Menschen der Prozess gemacht, wobei 40.000 bis 60.000 Betroffene hingerichtet wurden.[2] Frauen stellten in Mitteleuropa die Mehrzahl der Opfer (etwa drei Viertel der Opfer in Mitteleuropa) wie auch der Denunzianten von Hexerei. In Nordeuropa waren Männer stärker betroffen. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Konfessionszugehörigkeit und Hexenverfolgung liegt nicht vor. (Wikipedia, Hexenverfolgung)
Weshalb waren sie schuldig? Sie waren Kräuterkundige; sie waren Kräuterärzte, die glaubten, dass die Kräfte der Natur den menschlichen Körper heilen könnten. Dieser Glaube war eine direkte Bedrohung für die Macht der Kirche, die verkündete, dass Gott, der Vater und der Heilige Geist mit Christus mitfuhren, als dieser in den Himmel auffuhr. Bis zu ihrer Rückkehr auf die Erde war die Kirche der einzig mögliche Vermittler zwischen den Menschen und den übernatürlichen Kräften. Die Erfolge der Kräuterkundigen bei der Heilung ihrer Patienten widersprachen diesem Glauben an die alleinige Macht der Kirche.
Die neuere Forschung zeichnet betreffend die Ursachen der Hexenverfolgung ein differenzierteres Bild:
Die Kirchen spielten hierbei eine zwiespältige Rolle. Zwar gab es wirkungsmächtige Hexentheoretiker, die Geistliche waren, insbesondere der Autor des berüchtigten Hexenhammers Heinrich Kramer, ein Dominikanermönch. Allerdings musste er zeitlebens gegen kirchlichen Widerstand kämpfen, etwa in Innsbruck, wo er vom Bischof des Landes verwiesen wurde. Die Kölner Inquisition verurteilte die unethischen und illegalen Praktiken des Hexenhammers, da sie nicht im Einklang mit der katholischen Lehre standen. Ebenso kamen viele der wichtigsten Gegner der Hexenverfolgung aus der Kirche … . Infolge der Erbsündenlehre (Eva) häufige Misogynie ließ Frauen als „leichtes Einfallstor“ für den Teufel sehen, sie wurden regions- bzw. konfessionsabhängig auch wegen des herrschenden Patriarchats öfter zu Opfern als Männer. Auf Grundlage der katholischen Vulgata-Übersetzung von Exodus 22,17 „die Zauberer sollst du nicht leben lassen“ kam es in katholischen Gebieten durchschnittlich häufiger zur Verurteilung auch von Männern als in protestantischen Gebieten, in denen man sich auf die Übersetzung der Lutherbibel „Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen“ stützte.
Unheilvoll wirkten immer wieder Prediger, die die theologische Dämonologie an die Bevölkerung praktisch vermittelten und so der Unsicherheit der Massen oftmals eine Richtung und Schlagkraft verliehen. (…)
Konfessionelle Konflikte, aber auch Familien- und Vermögenskonflikte, Konkurrenzen diverser Art oder einfach den Wunsch, unliebsame Außenseiter auszuschalten, konnten Hexenverfolgungen auslösen. Wo aber die Gesellschaft nicht konfessionell gespalten war (etwa in Südeuropa), da trat das Phänomen kaum oder nur in gemäßigter Form auf. (Wikipedia, Hexenverfolgung)
Dass die in Kräuterwissen und Empfängnisverhütung kundigen “weisen Frauen”, auf die Mohawk anspielt, auch zu den Opfern gehörten, ist aber unbestritten.
Ein weiteres schlagendes Beispiel für die dunkle Seite der westlichen Zivilisation ist für John Mohawk das Verhalten der Spanier in der “Neuen Welt”. Und hier gibt es nun wirklich nichts zu korrigieren oder zu beschönigen: Was die Spanier damals unter den indigenen Gemeinschaften — zuerst auf den vorgelagerten Inseln, dann auf dem Festland — anrichteten, wird auf immer einer der grossen Schandflecke in der Geschichte der Menschheit bleiben. Stellvertretend sei hier der Bericht von Bartolomeo de las Casas erwähnt, den man auch heute nur mit Schaudern lesen kann:
Die Spanier … , welche zu Pferde und mit Schwertern und Lanzen bewaffnet waren, richteten ein gräuliches Gemetzel und Blutbad unter ihnen an. Sie drangen unter das Volk, schonten weder Kind noch Greis, weder Schwangere noch Entbundene, rissen ihnen die Leiber auf, und hieben alles in Stücke, nicht anders, als überfielen sie eine Herde Schafe, die in ihre Hürden eingesperrt wäre. Sie wetteten untereinander, wer unter ihnen einen Menschen auf einen Schwertstreich mitten voneinander hauen, ihm mit einer Pike den Kopf spalten oder das Eingeweide aus dem Leib reißen könne. Neugeborene Geschöpfchen rissen sie bei den Füßen von den Brüsten ihrer Mütter und schleuderten sie mit den Köpfen wider die Felsen. Sie machten auch breite Galgen, so dass die Füße beinahe die Erde berührten, hingen zu Ehren und zur Verherrlichung des Erlösers und der zwölf Apostel je 13 und 13 Indianer an jedem derselben, legten dann Holz und Feuer darunter und verbrannten sie alle lebendig … Alle diese beschriebenen Gräuel, und noch unzählige andere, habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen.
(aus dem Spiegelartikel “Kronzeuge des Völkermords”, Spiegel Geschichte 5/2009)
Mohawk geht es aber nicht darum, nun einfach die Spanier als die Bösewichte an den Pranger zu stellen:
Las Casas beschrieb auf dreißig Seiten, was auf den Inseln geschah. Ich muss Ihnen sagen, dass es ein erschütterndes Werk ist. Lesen Sie seine Beschreibungen; lesen Sie dann die Kapitel in Daniel Goldhagens Hitlers willige Henker und sagen Sie mir, dass es einen Unterschied zwischen der Psychologie dieser Deutschen und jener Spanier gibt. Es ist das Gleiche, nur sind die Spanier ein wenig künstlerischer. Die Deutschen neigten dazu, Menschen eher aus der Distanz zu foltern, während die Spanier ganz nah und persönlich dabei waren.
Leidet die “westliche Zivilisation” also an einem eigentlichen Geburtsmakel, — an dem, was Jack Forbes die “Wetiko-Seuche” nannte? Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Donnerstag, den 11. Mai.
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