Der His­torik­er Arthur M. Schlesinger jr. war in den USA eine Berühmtheit: Son­der­ber­ater der bei­den Präsi­den­ten John F. Kennedy und Lyn­don B. John­son, zweifach­er Pulitzer-Preisträger mit Büch­ern über Andrew Jack­son und Kennedy. Seine Stimme hat­te Gewicht.

Schlesinger hat­te in den frühen 80er-Jahren das Buch von Johansen “For­got­ten Founders” gele­sen und und es als “eine Tour-de-Force” genialer und ele­gan­ter Gelehrsamkeit gelobt, die den indi­an­is­chen Beiträ­gen zur amerikanis­chen Ver­fas­sung endlich Gerechtigkeit wider­fahren liess. Mit dieser pos­i­tiv­en Hal­tung war mit dem Erscheinen vonSchlesingers Buch “The Desunit­ing of Amer­i­ca” 1991 defin­i­tiv Schluss. Was führte zu diesem radikalen Gesin­nungswan­del?

In den 90-er Jahren pocht­en eth­nis­che Min­der­heit­en in den USA ver­mehrt nach Anerken­nung ihrer Iden­tität nicht nur in der Gesellschaft, son­dern auch im Bil­dungswe­sen. Konkret: Ihr ure­igen­er Beitrag in der Geschichte der USA solle eben­falls Würdi­gung und Ein­gang in die Geschichts-Cur­ric­u­la der Schulen find­en.

Der Lit­er­atur­pro­fes­sor Bruce A. Goebel schrieb in ein­er Kri­tik zu Schlesingers Buch:
Schon 1916 hat­te der amerikanis­chen Philosoph und Päd­a­goge John Dewey das Dilem­ma der öffentlichen Bil­dung in ein­er demokratis­chen Gesellschaft erkan­nt: Wie brin­gen wir das Bedürf­nis unser­er vielfälti­gen Gesellschaft nach nationaler Ein­heit mit den demokratis­chen Prinzip­i­en des Indi­vid­u­al­is­mus, der Tol­er­anz und der freien Wahl in Ein­klang?
In päd­a­gogis­ch­er Hin­sicht schlug er vor, dass wir Lehrpläne und Meth­o­d­en entwick­eln müssen, die der amerikanis­chen Jugend die Ide­ale der Demokratie ver­mit­teln und gle­ichzeit­ig ihre vie­len Unter­schiede respek­tieren und nutzen. Er behar­rte darauf: “Eine fortschrit­tliche Gesellschaft betra­chtet indi­vidu­elle Unter­schiede als wertvoll, da sie in ihnen die Mit­tel für ihr eigenes Wach­s­tum sieht. Daher muss eine demokratis­che Gesellschaft in Übere­in­stim­mung mit ihrem Ide­al intellek­tuelle Frei­heit und das Spiel der ver­schiede­nen Gaben und Inter­essen in ihren Bil­dungs­maß­nah­men zulassen”. 

Und er fuhr in sein­er Kri­tik aus dem Jahr 1992 fort:
Fast achtzig Jahre später debat­tieren Lehrer und Wis­senschaftler immer noch darüber, wie eine solche Auf­gabe bewältigt wer­den kann. In dem Maße, wie eth­nis­che Grup­pen an Macht gewin­nen, wer­den ihre Stim­men — kün­st­lerisch, wis­senschaftlich und poli­tisch — zunehmend gehört. Infolgedessen wächst der Druck auf öffentliche Schulen, kul­turelle Unter­schiede ern­sthaft zu respek­tieren. Viele Men­schen begrüßen den beleben­den Ein­fluss der Vielfalt. Andere sehen darin eine Bedro­hung für die gemein­samen Bande, die sich aus dem europäis­chen Erbe Amerikas ergeben.
Der Kon­takt mit frem­den Überzeu­gun­gen und Werten bringt zwangsläu­fig die Möglichkeit von Ver­lus­ten, aber auch von Gewinn mit sich. Aus diesem Grund kämpft Ameri­ka um ein Gle­ichgewicht zwis­chen dem Wun­sch nach Ein­heit, der ohne Wider­stand zu ein­er total­itären Ortho­dox­ie zu wer­den dro­ht, und der Wertschätzung von Unter­schieden, die ohne einen ein­heitss­tif­ten­den Glauben in Anar­chie ausarten kann. Die Zukun­ft ist nie sich­er.

Schlesinger glaubte nun in dieser Entwick­lung eine grundle­gende Gefährdung dessen zu erken­nen, was die USA aus­macht: das friedliche Zusam­men­leben eth­nisch ver­schieden­er Grup­pen, die sich an allererster Stelle — vor allen eth­nis­chen Unter­schieden — als amerikanis­che Staats­bürg­er ver­ste­hen. Dies illus­tri­erte er mit ein­er neuen Ver­wen­dung des “Rasse”-Begriffs:
Der Amerikan­er ist ein neuer Men­sch, der nach neuen Prinzip­i­en han­delt.… Hier wer­den Indi­viduen aller Natio­nen zu ein­er neuen Rasse von Men­schen ver­schmolzen. So bedeutete “Rasse” in Ameri­ka eine gemein­same Iden­tität, die jedem offen­ste­ht, der bere­it ist, sich zu assim­i­lieren, und dies sollte auch so bleiben.

Aus Schlesingers Sicht wurde diese Vision in Frage gestellt durch Ver­fechter eines “Eth­niz­ität­skults”, die eine Nation von Grup­pen anstreben, welche sich in ihren Abstam­mungen unter­schei­den und in ihren ver­schiede­nen Iden­titäten unan­tast­bar sind … Kurz gesagt, dieser Kult dro­ht zu ein­er Gegen­rev­o­lu­tion gegen die ursprüngliche gemein­same Kul­tur, eine einzige Nation, zu wer­den. (…)
Beson­ders anstößig ist der kür­zlich über­ar­beit­ete Geschicht­slehrplan des Bun­desstaates New York, in dem her­vorge­hoben wird, dass Afroamerikan­er, asi­atis­che Amerikan­er, Puertoricaner/Latinos und amerikanis­che Ure­in­wohn­er alle Opfer ein­er intellek­tuellen und erzieherischen Unter­drück­ung waren, die die Kul­tur und die Insti­tu­tio­nen der Vere­inigten Staat­en und der europäisch-amerikanis­chen Welt über Jahrhun­derte hin­weg geprägt hat.

Schlesingers Argu­men­ta­tion hat­te ins­beson­dere die Iroke­sen betr­e­f­fend aber einen entschei­den­den Schwach­punkt:
Bei seinen Bemühun­gen, die kul­turelle Assim­i­lierung mit der gewählten Ein­wan­derung zu recht­fer­ti­gen, verken­nt er, dass die amerikanis­chen Ure­in­wohn­er …  nicht in die Vere­inigten Staat­en einge­wan­dert sind. Sie woll­ten wed­er Anglo-Ameri­ka noch woll­ten sie assim­i­liert wer­den. Vielmehr zogen die Vere­inigten Staat­en zu ihnen und ver­langten Kon­for­mität.

Er behauptet, dass sich diese Grup­pen ihres eth­nis­chen Erbes nicht bewusst waren, weil es nur wenige lit­er­arische Aufze­ich­nun­gen gibt, die eine solche Verbindung doku­men­tieren. Eine große Anzahl von Volk­serzäh­lun­gen, Geschicht­en und Liedern zeugt vom Gegen­teil. Seine offen­sichtliche Unken­nt­nis dieser mündlichen Tra­di­tion und seine Annahme, dass ein Volk, das keine schriftlichen Aufze­ich­nun­gen hat, auch keine wertvolle Kul­tur besitzt, zeu­gen von einem ekla­tan­ten Man­gel an his­torisch­er Objek­tiv­ität sein­er­seits.
Er kön­nte auch bedenken, dass es in einem Land, in dem nicht-weiße, nicht-männliche Stim­men tra­di­tionell zum Schweigen gebracht wur­den, oft unter Andro­hung von Gewalt, nur wenige Möglichkeit­en gab, ein solch­es eth­nis­ches Bewusst­sein auf nationaler Ebene zum Aus­druck zu brin­gen. Erst in den let­zten Jahrzehn­ten haben eth­nis­che Grup­pen und Frauen genü­gend per­sön­liche und insti­tu­tionelle Macht erlangt, um eine bre­it angelegte Kam­pagne zur kul­turellen Erkun­dung zu starten.

Kurzum: Schlesinger war — ohne es zu bemerken — Opfer ein­er Logik des weis­sen Mannes gewor­den, welche das Ide­al ein­er amerikanis­chen Gesellschaft beschwor, das es in Wirk­lichkeit nicht gab. Er erneuerte  im Grunde — eben­falls ohne es zu real­isieren — die Forderung nach ein­er Ter­mi­na­tion­spoli­tik gegenüber den amerikanis­chen Ure­in­wohn­ern. Diese war, wie das neue Buch von Aram Mat­ti­oli “Zeit­en der Auflehnung ” ein­drück­lich aufzeigt, allerd­ings schon lange gescheit­ert.

Fort­set­zung in der näch­sten Folge am kom­menden Don­ner­stag, den 6. April

An anderen Serien inter­essiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­bach­er  / A Basic Call to Con­scious­ness / Leon­hard Ragaz

Mattiello am Mittwoch 23/13
Samstag ist Banntag

Deine Meinung