Der Völkerbund war die Antwort auf die Katastrophe und die Schrecken des 1. Weltkriegs. Anstoss waren die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson gewesen. 1920 nahm er seine Arbeit auf, doch schon zu Beginn zeigten sich Schwachpunkte: Sowohl die USA als auch die Sowjetunion waren aus unterschiedlichen Gründen nicht dabei. Deutschland wurde als alleiniger Kriegsschuldiger geächtet und erst 1926 aufgenommen.
Deskaheh und George Decker reisten zuerst nach London und verfassten dort das Manifest “Redman’s Appeal for Justice”, um es dem Völkerbund in Genf vorzulegen. Darin hiess es im Artikel 3:
Die Mitglieder des Staates der Sechs Irokesen-Nationen, d.h. die Mohawk, die Oneida, die Onondaga, die Cayuga, die Seneca und die Tuscarora, sind seit vielen Jahrhunderten organisierte und selbstverwaltete Völker, die in ihren eigenen Gebieten leben und sich im ältesten Völkerbund, dem Bund der Irokesen, zur Erhaltung des gegenseitigen Friedens zusammengeschlossen haben; Dieser Status wurde von Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden, den europäischen Staaten, die in Nordamerika Kolonien gründeten, von den Nachfolgestaaten der britischen Kolonien, den Vereinigten Staaten von Amerika, und vom Dominion Kanada anerkannt, mit denen die Sechs Nationen ihrerseits verhandelt haben, wobei sie zu Recht Anspruch auf die gleiche Anerkennung durch alle anderen Völker haben.
Dann Weiterreise nach Genf:
Von Anfang an entfalten die beiden eine ungeheure Geschäftigkeit. Im September beginnt die vierte Versammlung des Völkerbunds. Es gilt, Diplomaten zu kontaktieren. Decker hat ein Bündel Adressen von Leuten, die gewiss die Sache der Indigenen unterstützen werden. Die beiden sitzen im Garten des “Hôtel des familles”, auf der Seeseite des Bahnhofs. Mühsam tippt Deskaheh in eine Maschine. Lieber redet er.
Er kennt die sechs Sprachen der Nationen am Grand River, aber das nützt hier nichts. Sein Englisch ist eigenartig, er weiss es. Es ist vom Satzbau der indigenen Sprachen geprägt. So lässt er gern die Verben weg. In den Augen von sprachstolzen Engländern gilt er als ungebildet. (sämtliche Auszüge aus Willi Wottreng, Ein Irokese am Genfersee)
Der Völkerbund hatte selbstverständlich nicht auf einen unbekannten Irokesenchief einer unbekannten Nation gewartet. Dringendere Probleme in Europa drängten nach Lösungen. Deskaheh blieb schon im Vorzimmer des Generalsekretärs Sir James Drummond stecken. Als es Decker schliesslich gelang, Drummond doch noch zu einem kurzen Gespräch zu treffen, erklärte dieser, er könne das irokesische Anliegen nur aufs Traktandum setzen, wenn ein Mitgliedsstaat das verlange. Nur wer?
Doch dann erhielten Deskaheh und Decker eine Einladung vom Internationalen Büro für die Verteidigung der Indigenen. Eigentlich war dessen Arbeit auf Afrika ausgerichtet. Aber warum sich nicht auch um nordamerikanische Indigene kümmern?
Komiteemitglied Henri-Alexander Junod hatte für Deskaheh und sein Anliegen ein offenes Ohr und lud ihn ein, an der anstehenden Generalversammlung das Wort zu ergreifen. Bis dahin war Warten angesagt. Anwalt Decker konnte nicht warten und reiste zurück in die USA.
Der Herbst ist da. War es gestern noch heiss, weht heute ein kühler Wind und schüttelt die Bäume. Auf den nahen Hügelkämmen liegt, wie von Konditoren aus der Spritztüte hingetupft, etwas Schnee. Die Session des Völkerbunds ist zu Ende. Vor allem die Wochenenden sind öde. Es beginnt die Einsamkeit des Indian Chief. Die Diplomaten sind jetzt alle beschäftigt mit abendlichen Gesellschaften und Ausflügen mit Freunden. Sie werden Zigarren rauchen, mit Damen schäkern, Drinks zu sich nehmen, tanzen. Das gehört zu einem diplomatischen Kongress. Doch das ist nicht Deskahehs Welt. Er vermisst seine Familie.
Etwas Wärme brachte die Bekanntschaft mit Hedwige Barblan in seine Einsamkeit. Sie war die Tochter des Organisten der Kathedrale St Pierre, half gelegentlich im Völkerbundssekretariat aus und sollte für ihn während seines Aufenthalts in der Schweiz noch wichtig werden.
Junod hielt Wort. Ende September durfte Deskaheh an der Generalversammlung sein Anliegen vorbringen. Und siehe da: Sie beschloss, zur Unterstützung der Six Nations einen Ausschuss zu gründen.
Die Engländerin Fleming-Gyll hat das Herrn Junod in einem Schreiben so vorgeschlagen. So geschieht es. Junod will selber mitwirken. Eugene Pittard ist dabei, der erste Professor, der den Genfer Lehrstuhl für Anthropologie innehat. Und seine Frau, die Genfer Journalistin und Schriftstellerin Hélène Dufour. Als Sekretärin wird eine Missionarin a.D. gewählt. Arbeiten werden verteilt. Fleming-Gyll hat angeboten, Landkarten zu zeichnen, welche das unabhängige Irokesengebiet und den Staat Kanada zeigen. Zum Schluss stellen sich die zwei Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmer für eine Gruppenaufnahme vor dem Tagungsort, dem Palais de l’Athénée.
Und noch einen Erfolg konnte der Delegierte der Six Nations verbuchen. Dazu mehr in der nächsten Folge wie immer
am Donnerstag, den 13. Oktober.
P.S. Wer die ganze spannend und ausführlich erzählte Geschichte von Deskaheh kennenlernen möchte, dem sei das Buch von Willi Wottreng, auf dem diese Folge basiert, wärmstens empfohlen!
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