Wilhelm Tell mit Bogen, Frau und Sohn in der Oper “Guillaume Tell” von André Ernest Modeste Grétry
Samuel Henzi schrieb wie andere Mitglieder der gebildeten Elite auf französisch. In seinem Memorial (Tell 8) bezeichnete er die Berner Oligarchie als “Grisler”, was den Titel seines 1748 entworfenen Theaterstücks “Grisler ou l’ambition punie” verständlich macht, — obwohl es um Tells Schicksal ging.
Aber Tell sprach nicht nur französisch, sondern musste sich auch den Vorgaben der klassischen französischen Tragödie unterwerfen. Das hiess: Ersetzen der Armbrust durch den “nobleren” Bogen und Hinzufügen einer dramatischen und unglücklichen Liebesgeschichte, nämlich zwischen Adolphe, dem Sohn des Tyrannen, und Edwige, der Tochter Tells, — Romeo und Julia lassen grüssen ;-). Grisler ist natürlich empört über die nicht standesgemässe Wahl seines Sohns, verliebt sich aber selber in Edwige. Sie zieht mit dem Ausruf “Halt, du schändlicher Bock” einen Dolch aus ihrer Tasche, — Henzis Anklage des sexuellen Missbrauchs an jungen Frauen und Mädchen durch die “gnädigen Herren von Bern”…
Die restliche Geschichte ist bekannt: Apfelschuss vom Haupt der Tochter Tells, Flucht Tells aus Grislers Boot und Tyrannenmord in der Hohlen Gasse. Doch siehe da, Grisler erkennt sterbend sein Fehlverhalten: “Heut, dass ich von diesem schrecklichen Irrtum geheilt bin,/ steht meine Reue am Ende meiner verhassten Herrschaft,/ ja, ich segne den Pfeil Tells, der mich durchbohrt hat:/ Ich vergesse all mein Blut und fühl mich nicht entehrt./ Mit gutem Recht erzürnt, stürzen die Völker der Schweiz/ an diesen Orten meine finstere Tyrannei”, und er segnet die Verbindung zwischen Alphonse und Edwige. Ende gut, alles gut :-), nur leider nicht für Henzi.
Ende gut, alles gut auch für sein Theaterstück: Nach 254 Jahren, nämlich 2002, erlebte es endlich seine Uraufführung am Stadttheater Solothurn, allerdings auf Deutsch.
Auch Voltaire, der scharfzüngige Philosoph der Aufklärung, befasste sich mit der Tellsage und plante ein Drama, doch Antoine-Marin Lemierre kam ihm zu seinem Leidwesen mit dem 1766 entstandenen “Guillaume Tell” zuvor. Sein Stück erlangte nach anfänglichen Startschwierigkeiten in Frankreich immer grössere Popularität. 1786 anlässlich einer Neuinszenierung wurde der Apfelschuss entgegen der Regeln der klassischen Tragödie direkt auf der Bühne gezeigt — die französische Revolution kündigte sich an … Zwar liess Lemierre im Gegensatz zu Henzi Tell dessen Sohn, führte aber dafür eine Mme Tell namens Cléofé ein, die mutig an der Seite ihres Gatten stand.
Wenige Jahre später, 1791 — die Revolution ist schon voll im Gange und Lemierres Spektakel bricht sämtliche Aufführungsrekorde — wird es von André-Ernest-Modeste Grétry in eine “Opéra Comique” verwandelt. Das Publikum stürmt nach der Aufführung, die mit der Marseillaise endet, vor Begeisterung die Bühne und zerreisst dabei den Vorhang: Vive Guillaume Tell — le héros de la Révolution!!
Grétry, der überaus produktiv war, gegen 70 Opern schuf und bei seinem letzten Gang von 30’000 Trauernden begleitet wurde, stammte aus Lüttich. Deshalb erwies ihm die “Opéra de Wallonie” in Lüttich 2013 mit einer Aufführung erneut die Ehre.
Schauen wir uns doch zum Abschluss einen 6‑minütigen Zusammenschnitt daraus an: Grisler ist gerade mit einem echten Pferd auf die Bühne geritten, Madame Tell bittet vergeblich um Gnade, der Apfelschuss ist unvermeidlich, Mme Tell verflucht Grisler, doch zum Schluss kann ihr Mann deklamieren “La terre de la Liberté!”, — und gleich noch seine Tochter Marie mit dem Sohn Melchtals verheiraten :-)!
Aber nicht nur auf der Bühne war Tell im 18. Jahrhundert offensichtlich höchst lebendig. Auch in der ganz realen Politik — sei es in der Alten Eidgenossenschaft, in den englischen Kolonien jenseits des grossen Teichs und natürlich im revolutionären Frankreich — begann er einen ungeahnten Siegeszug. Darüber mehr in der nächsten Folge!
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