Radierung mit Szenen aus der Befreiungsgeschichte. Mitte 18. Jhdt. / Schweizerisches Landesmuseum
Wir wollen den Begriff des “Mythos” zuerst in seiner negativen Ausprägung — also als “unwahr”- am Beispiel des Gründungsdatums der Schweizerischen Eidgenossenschaft untersuchen, — bekanntlich der 1. August 1291.
Leider nicht so einfach: Wer obige Illustration genauer anschaut, kann ganz unten entziffern: “Der erste Bund von Gott erwehlt Als Taussen dreyhundert acht jahr zehlt”. 1308 also?
Leider nicht so einfach: Bis ins 19. Jhdt. datierte man den Rütlischwur nämlich auf den 8. September 1307. Stimmt also dieses Datum?
Leider nicht so einfach: Als Alternativdatum für den ersten Bund wurde auch der 9. Dezember 1315 gehandelt, als der Morgartenbrief besiegelt wurde.
Die interessante Geschichte, wann und warum Ende des 19. Jahrhunderts schliesslich das heute gültige “offizielle” Datum ausgewählt wurde, kann hier im Detail nachgelesen werden.
Klar gibt es einen Bundesbrief aus dem Jahr 1291. Er liegt ja immerhin im Bundesbriefmuseum in Schwyz. Das Problem ist nur, dass er über Jahrhunderte hinweg völlig vergessen in einem Archiv dahindämmerte, im 18. Jhdt. zwar wieder entdeckt, aber erst 1891 aus politischen Gründen in den Rang eines Gründungsdokuments erhoben wurde. Dazu kommt, dass es Hinweise darauf gibt, dass der Brief möglicherweise erst später entstand und rückdatiert wurde.
Doch damit nicht genug: Der Historiker Roger Sablonier veröffentlichte 2013 sein Buch mit dem provokanten Titel “Gründungszeit ohne Eidgenossen”, wobei “Gründungszeit” ironisch zu verstehen ist.
Dazu Kurt Messmer: “Der Begriff “Bundesbrief” verleitet zur Vorstellung, es handle sich um ein einzigartiges, unvergleichliches Dokument. Es gab jedoch eine “Flut von vergleichbaren Verträgen” … Mit der geläufigen Bezeichnung “Landfriedensbündnis” sind diese Verträge wortgetreu zu erklären als Bündnisse, um den Frieden im Land und die öffentliche Ordnung zu sichern.
Räumlich verbanden solche Abmachungen unterschiedliche Partner vom deutschen Südwesten bis Savoyen, von der Ostschweiz über das Bodenseegebiet bis zu den Habsburgern in Österreich. Die frühesten Städtebünde datieren lange vor 1291, so etwa jener zwischen Bern, Freiburg und Murten, der bereits 1218 geschlossen wurde. Eine Zeit politischer Wirren wie jene nach dem Tod König Rudolfs von Habsburg im Jahr 1291 rief geradezu nach vertraglichen Absicherungen. Am 9. August 1291 schloss Bern ein Bündnis mit dem mächtigen Savoyen …” (aus Kurt Messmer, Die Kunst des Möglichen, 2018)
Wir müssen uns also eingestehen: Die Bundesgründung von 1291 — als ein Ende des 19. Jhtds politisch gewollter Mythos — ist mit der faktischen Geschichte nicht zu vereinbaren. Eben — “nur” ein Mythos … Die Tatsache, dass der 1. August erst 1994 zu einem arbeitsfreien Feiertag wurde, zeigt übrigens den geringen emotionalen Stellenwert dieses Datums.
Ganz anders bei unserem Wilhelm Tell! Er taucht — mit dem Rütlischwur und dem Burgenbruch — zum ersten Mal im sog. Weissen Buch von Sarnen auf, einer Sammlung von Urkunden, Dokumenten und einer Chronik, zusammengestellt und verfasst vom Obwaldner Landschreiber Hans Schriber zwischen 1470 und 1472. Das ist insofern interessant, als sich im gleichen Zeitraum bei den lose miteinander verbündeten Land- und Stadtorten — es gab keinen gemeinsamen Bundesbrief! — ebenfalls zum ersten Mal ein “Wir-Gefühl” entwickelt. Das wird wunderschön sichtbar in der Karte des Einsiedler Dekans Albrecht von Bonstetten von 1479, in der die Rigi als Heiliger Berg und Zentrum der 13 Orte erscheint.
Doch im Gegensatz zum Bundesbrief von 1291 verschwand der “Thall” — der Wilhelm kam erst später dazu 😉 — nicht in irgendeinem staubigen Archiv, sondern machte sofort steile Karriere — zuerst innerhalb der Eidgenossenschaft, dann, wie wir noch sehen werden, ausgehend von Schiller sogar weltweit. Wie ist das zu erklären?
Jean Rudolf von Salis, Historiker und im zweiten Weltkrieg berühmter Chronist bei Radio Beromünster, schildert in seinem Aufsatz “Ursprung, Gestalt und Wirkung des schweizerischen Mythos von Tell”: ” …Wenn zur Zeit der äusseren Bedrohung der Schweiz durch Hitler die Menschen im Theater sich von ihren Sitzen erhoben und in tiefer Ergriffenheit den Rütlischwur mitsprachen, identifizierten sie sich mit dem Geschehen auf der Bühne .… Dabei ist es, was diese Wirkung betrifft, völlig gleichgültig, ob sie glaubten, die Dinge hätten sich damals so zugetragen wie im Drama (von Schiller). Wir waren ergriffen, aber glaubten nicht an die Historizität der Handlung auf der Bühne. Was ergriff, war ihr Sinn, die Kraft des Wortes.” Und er fährt weiter: “Nun lautet aber die Frage, ob diese Intensität nicht gerade davon herrührt, dass Tell eine sagenhafte, eine mythische, eine archetypische Figur ist.”
Damit ist — neben Mythos — ein weiteres Zauberwort gefallen: Archetypus!
C.G. Jung bezeichnete damit “die dem kollektiven Unbewussten zugehörig vermuteten Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster … Archetypen sind definiert als psychische (auch psychophysische) Strukturdominanten, die als unbewusste Wirkfaktoren das menschliche Verhalten und das Bewusstsein beeinflussen.”. (Wikipedia)
Ein konkretes Beispiel: Der Neo-Jungianer Robert Moore zeigte z.B. auf, dass in der Psyche des Mannes vier dominierende Archetypen zu finden sind, welche er “king, warrior, magician und lover” nannte und die sich auf gesunde oder krankhafte Weise entwickeln und manifestieren können.
Der grosse Mythen-Erforscher Joseph Campbell seinerseits konnte nachweisen, dass das Bild des mythischen Helden ein im kollektiven Unbewussten verankerter und absolut kulturübergreifender Archetyp ist, der ganz bestimmten Entwicklungsschritten folgt. Er fasste seine Erkenntnisse im Bestseller “A hero with a thousand faces” (auf deutsch “Der Heros in tausend Gestalten”) zusammen.
Wir wollen in den kommenden Folgen der Arbeitshypothese nachgehen, dass der Tell-Archetyp immer dann reaktiviert wird und ins Bewusstsein tritt, wenn es um Kämpfe für Freiheit und soziale Gerechtigkeit geht. Spannend ist auch die Frage, warum Tell in der Eidgenossenschaft gerade im 15. Jahrhundert — vielleicht ausgehend von einer schon vorher existierenden mündlichen Tradition — zum öffentlichen Leben erwachte. Ihr wollen wir die nächste Folge widmen.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson
Christoph Meury
Jan. 11, 2020
Natürlich müssen Historiker nach der Wahrheit suchen und daher ist es für ihr Suchen & Forschen relevant, ob es eine Tellfigur gibt, oder ob der ganze Zauber eine nette Geschichte ist, welche historisch passte, weil man zum Zeitpunkt X einen hausgemachten Helden vorzeigen wollte, oder das ganze Heldenepos, über die Jahre mystifiziert und historisch verinnerlicht wurde, damit die Bevölkerung endlich eine valable Ursprungsgeschichte ihr eigen nennen konnte.
.
Jede Generation braucht ihre Helden. Manchmal sind sie aus Pappe und taugen für gar nichts, sind aber nette Projektionsfiguren, welche der jeweiligen ZeitgenossIn Sinn vermitteln und Halt in schwierigen Zeiten bieten. Manchmal sind die Helden echt, aber passen nicht in die Zeit. Insofern sind diese Hilfskonstrukte notwendig. Sie sind Seelenbalsam, mehr aber nicht. Daher können sich alle freihändig daran abarbeiten und ihren jeweiligen Helden bis zur Unkenntlichkeit instrumentalisieren.
Sei’s drum: Der historisch aufgepeppte Wilhelm Tell hilft uns nicht weiter. Auch die spärlichen und nachdatierten Dokumente sind Wackelfakten.
Ob als Mythos, oder historische Figur der liebe Tell erklärt uns unsere heutige Welt in keiner Weise und hilft uns nicht bei der Lösung unserer akut gefährdeten Freiheits- oder Neutralitätsfragen, erklärt uns nicht den möglichen EU-Beitritt, die Freihandelsabkommen oder gar die virulenten Klimafragen. Die Tell-Geschichte ist und bleibt eine nette Story über einen möglichen Freiheitskämpfer oder einfach einen egoistischen Individualisten mit anarchistischen Allüren.
ER wird es uns nie und nimmer verraten…
max feurer
Jan. 12, 2020
Danke für den Kommentar, der hoffentlich wieder eine interessante Diskussion anstösst!
Historiker sind heute kaum mehr mit der Frage beschäftigt, was “wahr” und was einfach “eine nette Geschichte” ist, weil sie erkannt haben, dass jede Epoche ihre eigene Wahrheit hat. Auf die Geschichte der Schweiz bezogen ist das Buch von Guy P. Marchal “Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität” dafür ein echter Augenöffner.
Ich bin durchaus einverstanden, dass der liebe Tell unsere heutige Welt in keiner Weise erklären kann.
Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass er symbolisch für eine archetypische innere Kraft steht, die uns erlaubt, auf eigenen Füssen zu stehen und für unsere Ideale, z.B. Freiheit oder soziale Gerechtigkeit, zu kämpfen.Das hat Schiller intuitiv erfasst und kongenial in seinem Theaterstück umgesetzt. Nicht umsonst tauchte Tell plötzlich in der Amerikanischen Revolution, der Französischen Revolution, 1848 usw. als Symbol für den Freiheitskampf quicklebendig wieder auf (siehe kommende Folgen).
Was die “egoistischen Individualisten mit anarchistischen Allüren” betrifft, hätten die spanischen Anarchisten, die im Spanischen Bürgerkrieg ein einmaliges Gesellschaftsexperiment starteten und dann zwischen Francos Truppen und Stalins Killern zerrieben wurden, wahrscheinlich eine durchaus andere Meinung gehabt …
Welche Macht archetypische Symbole ausüben können, hat- leider auf höchst negative Weise — der Aufstieg des Nationalsozialismus deutlich gemacht. Heute geht es um eine positive Aktivierung, wie das etwa der Neo-Jungianer Robert Moore in seinen Büchern (z.B. König, Krieger, Magier, Liebhaber: Initiation in das wahre männliche Selbst durch kraftvolle Archetypen) oder Robert Bly in seinem “Eisenhans” dargelegt haben. Und da ist — so meine Meinung — die Auseinandersetzung mit dem Tell-Mythos gerade heute durchaus sinnvoll.
Christoph Meury
Jan. 12, 2020
Manchmal muss man Helden, vorallem solche, welche als Nationalhelden hochstilisiert wurden, echt bemitleiden. Sie haben kein leichtes Leben. Sie werden ungefragt ideologisch vermarket und verlieren ihr Eigenleben und ihr widersprüchliches Wirken wird historisch geföhnt und glattgebügelt. Bis alles passt. Tell steht unversehens symbolisch auch für eine «archetypische innere Kraft, die uns erlaubt, auf eigenen Füssen zu stehen und für unsere Ideale, z.B. Freiheit oder soziale Gerechtigkeit, zu kämpfen.« So, so! Immerhin interessant, dass die gleiche Freiheitsfolie auch für’s Dritte Reich und die entsprechende Propagandamaschine von Goebbels passgenau als Führerdrama zur Hand war. Schiller’s Motiv des gerechtfertigten Tyrannenmords fand den Beifall des deutschen Theaterpublikums. Würde aktuell vielleicht auch den US-BürgerInnen gefallen, wenn’s darum geht den Drohnenmord an Qasem Soleimani, dem iranischen General, zu rechtfertigen. Trump würde locker in die Tellfigur schlüpfen und sich als echten globalen Freiheitskämpfer der Öffentlichkeit andienen.
.
Sei’s drum: Seit 1912 wird am Rugen bei Matten das Drama von Friedrich Schiller gespielt. Einzig unterbrochen während der beiden Weltkriege, begann die Erfolgsgeschichte eines Schweizer Kuturguts im Berner Oberland. Kein Werk der Literaturgeschichte hat die Schweizer Volkskultur so nachhaltig geprägt wie Schillers «Wilhelm Tell» und keine Theaterbühne zeigt Schweizer Geschichte so hautnah und authentisch wie die Tellspiele Interlaken. Das Drama gehört seit Jahren auf jeden Theaterspielplan. Ganze Generationen von Dramaturgen und Regisseuren haben sich an dem Stoff abgearbeitet. Der Held ist definitiv zu Tode interpretiert. Der zuckt nicht mehr. Ein Drama! Trotzdem werden weiterhin ganze Schulklassen ins Theater geprügelt, um ihnen den Heldenmythos & den angeblichen Freiheitskampf (wichtig: Tyrannen darf man totschlagen!) einzuimpfen. Man könnte natürlich auch ein adäquates Theaterstück über beispielsweise Che Guevara zur Aufführung bringen, geht aber nicht, weil Che für Revolution steht und zwischenzeitlich zu Tode kommerzialisiert wurde, um nur noch als Fratze auf einem Gucci-T-Shirt in die Welt zu grinsen. Arme aufgemotzte Helden!
max feurer
Jan. 12, 2020
Es ist richtig, dass Schillers “Tell“im nationalsozialistichen Deutschland grosse Karriere machte. Aber man sollte halt auch noch hinzufügen, dass Hitler 1941 plötzlich ein totales Aufführungsverbot erliess. Eine These geht davon aus, dass er nach den Attentatsversuchen von Maurice Bavaud (der 1941 hingerichtet wurde) plötzlich dämmerte, dass man Schillers Drama auch anders lesen konnte als in der nationalsozialistischen Variante …
“Die Schweiz bezeichnete der Führer als das widerwärtigste und erbärmlichste Volk und Staatengebilde. Die Schweizer seien Todfeinde des neuen Deutschland und erklärten bezeichnenderweise, daß, wenn keine Wunder geschähen, die ‚Schwaben‘ am Ende den Krieg doch noch gewinnen würden.”(Aussage einen Tag vor dem Verbot)
.
Ihr Vergleich mit dem Drohnenmord an Qasem Soleimani ist mir echt zu billig: Als Kenner wissen Sie doch sehr genau, wie Schiller mit der moralischen Rechtfertigung eines Tyrannenmordes gekämpft hat, — und mit Verlaub, die jetzige amerikanische Aussenpolitik als Kampf um Freiheit und soziale Gerechtigkeit hinzustellen, ist schlichtweg lächerlich.
Ich finde es interessant, wie Sie sich ausschliesslich auf diesen Aspekt im Tell-Mythos fixieren. Sehr viel wichtiger finde ich die Szene mit der Verweigerung, den Hut als Symbol einer ungerechten Herrschaft zu grüssen. Da liegt doch das eigentliche Potential des Tell-Mythos!
.
2017 war ich übrigens an der Tell-Inszenierung im Theater Basel, die sich nur am gesprochenen Wort orientierte. Da war nichts von einem zu Tode interpretierten Helden zu spüren, ganz im Gegenteil. Da wurde wieder spürbar, was Schiller mit seinem Drama sagen wollte.
Ihr Hinweis, dass auch heute noch ganze Schulklassen ins Theater geprügelt werden, um mit dem Heldenmythos & angeblichem Befreiungskampf, zeigt mir übrigens, wie weit Sie von der heutigen Schulrealität entfernt sind … Kein Lehrer/keine Lehrerin kann es sich doch mehr erlauben,Schillers Tell einfach kritiklos und ohne Hintergrundinformation zu behandeln!
Christoph Meury
Jan. 13, 2020
Von kulturellem Übereifer kann im Kanton Baselland keine Rede sein.
.
Artikel von Christoph Meury aus dem Fundus
Oktober 2013 — Kolumne unter dem Label «Agglo-Graffiti
Von kulturellem Übereifer kann keine Rede sein.
Rund 3 Franken pro Schülerin und Schüler für Kunst & Kultur, soviel investiert der Kanton Baselland in die Zukunft seiner 42’254 Lernenden (2013)
.
(…) Kulturvermittlung sollte ein Schwerpunkt der Baselbieter Kulturpolitik werden. Und zwar relativ rasch und unmittelbar. Es gilt dabei nicht zuletzt, das Kulturpublikum von morgen zu sichern. Kulturvermittlung sollte integraler Bestandteil von staatlich geförderten Kulturangeboten werden. Subventionierte Institutionen haben zukünftig als Hüter von öffentlichem Kulturgut den Auftrag, dieses an möglichst breite Teile der Bevölkerung weiterzugeben. Kulturvermittlung erhöht die Zugänglichkeit von kulturellen Institutionen und macht sie zu lebendigen Orten des Austauschs über Ideen und Werte. Kulturvermittlung fördert die Teilhabe einer möglichst großen Zahl unterschiedlicher Anspruchsgruppen an Kultur. Neben kultureller Bildung fördert sie die individuelle Reflexions- und Ausdrucksfähigkeit des Einzelnen.
.
Kulturvermittlung will die vielfältigen Kulturangebote für unterschiedliche Zielgruppen zugänglich machen und deren Teilhabe daran fördern. Das Thema Kulturvermittlung hat in den vergangenen Jahren europaweit an Bedeutung gewonnen. Auch das neue Kulturfördergesetz des Bundes rückt Kunst- und Kulturvermittlung ins Blickfeld. Grundsätzlich pflegen viele regionale Kulturakteure (allen voran Museen, Theater und Orchester) eine kontinuierliche Vermittlungsarbeit. Die Leistungsaufträge und die Verteilung der Ressourcen bilden hingegen selten einen Schwerpunkt bei Vermittlungsarbeit ab.
.
Die Baselbieter Kulturabteilung hat seit Jahren für die Kulturvermittlung an Schulen eine eigens geschaffene Abteilung und die Politik hat ihr dafür auch einen Geldbeitrag zur Verfügung gestellt. Damit könnten Alle zufrieden sein. Aber! Genügt dieses Angebot auch? Ich habe versucht die aktuellen Zahlen einmal in ein Verhältnis zu setzen. Die Rechnung sieht allerdings sehr nüchtern aus.
.
Im Kanton Baselland gibt es 42’254 Lernende (Kindergarten, Primarschule, Sekundarstufe 1, Sonderschulungen, nachobligatorische Schulen, Privatschulen, berufliche Grundausbildung, Gymnasien, Baselbieter FH-Studierende und Baselbieter Uni-Studentinnen und Studenten). Dies gemäß einer Broschüre der Basellandschaftlichen Kantonalbank (2011).
.
Entsprechend dem aktuellen Budget steht der Abteilung «kulturelles.bl» für Kultur in Schulen («kis.bl») ein Gesamtbudget von 190’000.- zur Verfügung.
.
Zieht man von diesem Betrag die Vermittlungsstelle (50% verwaltungsinterne Stabstelle, inkl. Werbung, Betreuung des Webseitportals, etc.) von rund 60’000.- ab, ergibt sich eine nutzbare Dienstleistung für die Schülerinnen und Schüler von jährlich 3.10 CHF für Kultur & Kunst. Damit müssen die Lehrerinnen und Lehrer Beiträge an Theater- und Museumsbesuche verrechnen, Schüleraufführungen alimentieren, etc. Das heißt einer Lehrperson stehen pro Jahr für eine 24-köpfige Klasse CHF 74.40 für das kulturelle Bildungsprogramm zur Verfügung. Soviel Geldmittel sind die Politikerinnen und Politiker bereit für Kultur & Kunst zur Verfügung zu stellen. Mit Verlaub, das ist keine vorzeigbare Meisterleistung! Auch von Vermittlungsübereifer kann dabei kaum die Rede sein.
.
Mit diesem mickrigen Geldeinsatz kommt der durchschnittliche BL-Schüler & BL-Schülerin zu keiner vernünftigen kulturellen Bildung. Einige Wenige, welche das Glück haben eine engagierte Lehrerin, einen engagierten Lehrer zu haben, werden kulturell weitergebildet. Die anderen gehen leer aus. In diesem Sinne sieht die Sache für die 42’254 Lernenden im Kanton Baselland eher düster aus.
.
Daher stellt sich bei der Verabschiedung des Kulturleitbildes und des entsprechenden Kulturbudgets die Grundsatzfrage. Will man den 42’254 Lernenden im Kanton Baselland die Kultur näher bringen und will man ihnen eine kulturelle Bildung, als integraler Bestandteil der Bildung, vermitteln, oder lässt man es sein und hält weiterhin ein marginales Alibiangebot aufrecht, welches nur ein paar wenigen Auserwählten und damit Privilegierten zur Verfügung steht.
.
Anmerkung: Die aktuellen Zahlen kenne ich nicht. Da das Kulturbudget im BL unter der Federführung von RR Monica Gschwind (FDP) in den letzten Jahren stark zurückgestutzt wurde, dürfte das Gesamtbudget im BL weiterhin bei knapp 200’000 dümpeln. Zudem ist die Abteilung Kulturelles in Schulen gecanelt worden. Es gibt dafür auch keine extra Website. Es gibt lediglich einen Link, um Rückerstattungsbelege für Theaterbesuche einzufordern.
.
Wie die Lage in Birsfelden aussieht weiss ich nicht. Zu meiner Zeit als Theaterleiter des Roxy gab es für Theaterbesuche keine kommunalen Vergünstigungen, oder ein adäquates eigenständiges Theater-Musik-Museum-Angebot.
ueli kaufmann
Jan. 13, 2020
In Birsfelden schüttet der Verein für die Schuljugend ein mal jährlich pro Schüler 5.- aus. Der Verein nennt es “Kulturfünfliber”, er muss von der Lehrkraft mit einem Projekt beantragt werden.
max feurer
Jan. 14, 2020
Für einmal bin ich mit den Ausführungen von Christoph Meury voll einverstanden :-). Eine Ausweitung des kantonalen Engagements für kulturelle Belange wäre höchst sinnvoll und erwünscht.
Ein von Christoph Meury erwähnter und wichtiger Aspekt ist allerdings auch, dass es kulturell interessierte Lehrerinnen und Lehrer braucht, die manchmal etwas über den Tellerrand ihres schulischen Pflichtprogramms gucken …
Christoph Meury
Jan. 14, 2020
Ergänzend: Es ist die Politik der Bürgerlichen, welche den Begriff der Bildung von der Kultur entkoppelt hat. Bei der schulischen Bildung ist man an gesetzliche Vorgaben gebunden, während die Kultur unter dem Label «nice to have« läuft. Damit sind die Kulturausgaben volatil und werden, je nach politischem Kräfteverhältnis, neu justiert. Seit RR Monica Gschwind (FDP) im Amt ist werden die Kulturausgaben laufend restriktiver & einschränkender behandelt. Etliche kulturelle Dienstleistungen sind an Basel-Stadt ausgelagert/delegiert worden (inkl. die Verantwortung). Die finanzielle Abgeltung ist unter erheblichem politischem Druck auf ein Minimum eingefroren worden. Im eigenen Kanton spart man vorwiegend bei der Kultur für Schulen. Die eigene Vermittlungsplattform ist gestrichen und die Stelle als reine Auszahlungsstelle für Minibeiträge degradiert worden.
.
Aber man kann sich auch an der eigenen Nase nehmen: Birsfelden agiert seit Jahren ohne Kulturkonzept und ohne kulturelles Leitbild. Die Beiträge an die verschiedenen Vereine & Kommissionen werden quasi freihändig vergeben (Teil eines Globalbudgets). Für die meisten alimentierten Aktivitäten gibt es auch kein eigentliches Pflichtenheft. Ein eigentliches Controlling und adäquate Berichterstattungen fehlen. Für die Kultur ist das schlecht. Damit hängen sie am Gängelband des Goodwills der Politik, respektive sind von der politischen Grosswetterlage abhängig. Damit wandert die Kultur auf dünnem Eis. Die kulturellen Leistungen sind politisch schwach legitimiert. Fazit: Birsfelden braucht dringendst ein Kulturleitbild. Ein verpflichtendes Einbinden der Kultur & Kunst bei den Aufgaben & Finanzierung/Budget der Gemeinde und eine verbindliche, mehrjährige Absicherung für die kulturellen Aktivitäten.
Merke: Kultur & Kunst sind essentielle und existentielle Bestandteile der Bildung.
.
In diesem Sinne würde ich von den AnwärterInnen des zukünftigen Gemeinderates auch erheblich mehr inhaltliche Substanz erwarten.