Anony­mer Stich, ent­stan­den zwi­schen 1777 und 1793, als Bei­spiel dafür, dass Tell und Washing­ton als “Brü­der im Geis­te” erlebt wurden.

Es wäre erstaun­lich gewe­sen, wenn Wil­helm Tell sich in der tur­bu­len­ten Umbruchs­zeit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on nur mit sei­ner Prä­senz auf dem Kon­ti­nent zufrie­den gege­ben hätte.
Er schaff­te den Sprung über den Kanal nach “good old Eng­land” mit dem post­hu­men Tell-Epos von Jean-Pierre Cla­ris de Flo­ri­an. Flo­ri­an hat­te “Guil­laume Tell et la Suis­se libre” im Gefäng­nis geschrie­ben, wo er wegen der Wid­mung eines Romans an Marie-Antoi­net­te gelan­det war — unter Robes­pierre, Marat und St Just ein Kapitalverbrechen!

W.C. Macrea­dy als Tell

In Eng­land schau­te man mit Abscheu auf die Exzes­se der Revo­lu­ti­on in Frank­reich, wes­halb die Über­set­zer mit Gess­ler noch so ger­ne auf den “Tyran­nen Robes­pierre” ziel­ten. Flo­ri­ans Epos wur­de mit 21 Ver­sio­nen von fünf Über­set­zern zuerst in Eng­land und bald dar­auf in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu einem gewal­ti­gen Erfolg. Und es inspi­rier­te zusam­men mit Gré­trys Oper (Tell 9) James Sheri­dan Know­les zu einem wei­te­ren Tell-Thea­ter­stück, das sowohl in Lon­don, Dub­lin, Bos­ton, New York, Phil­adel­phia und Bal­ti­more einen Zuschau­er­re­kord nach dem andern brach und dem Tell-Dar­stel­ler Wil­liam Charles Macrea­dy inter­na­tio­na­le Berühmt­heit bescherte.

Doch Tell war auf der ande­ren Sei­te des Atlan­tiks schon lan­ge vor­her hei­misch gewor­den. Durch­aus ein­leuch­tend: Die Par­al­le­le zwi­schen dem Befrei­ungs­kampf der Berg­ler gegen ade­li­ge Unter­drü­ckung und der Kampf der Kolo­nis­ten gegen die könig­li­chen eng­li­schen Trup­pen war schlicht­weg zu einladend!

Wer sich wie­der etwas mit dem ame­ri­ka­ni­schen Unab­hän­gig­keits­krieg ver­traut machen möch­te, fin­det eine gute Über­sicht auf Wiki­pe­dia.

1760 erschien die “Bos­ton Gazet­te” mit dem Leit­ar­ti­kel “The Heroic Deeds of Wil­helm Tell”, als bri­ti­sche Trup­pen in Bos­ten einmarschierten.
1768 publi­zier­te Johann Hen­rich Möl­ler, der sei­ne Buch­drucker­leh­re noch in Basel gemacht hat­te, in die Neue Welt aus­ge­wan­dert war und sich dort zum Hen­ry Mil­ler gewan­delt hat­te, in Phil­adel­phia ein Lie­der­buch, mit dem er sei­ne deutsch­spra­chi­gen Genos­sen auf den Wider­stand gegen die eng­li­schen Her­ren ein­stim­men woll­te. Unter­stützt wur­de er vom St. Gal­ler Johann Joa­chim Zubly, der in sei­nen Schrif­ten pro­phe­zei­te, dass es den Eng­län­dern genau­so gehen wer­de wie den Öster­rei­chern, denen es nicht gelun­gen sei, sich  gegen eine “Hand­voll Schwei­zer” durchzusetzen.

1784 erschien im “Bos­ton Maga­zi­ne” ein “Bericht über den Anfang der Frei­heit des Schwei­z­er­lan­des; mit einem schö­nen Kup­fer­stich, der jenes denk­wür­di­ge Ereig­nis fest­hält”. Dar­in wird von Wil­helm Tell, “one of the most dis­tin­guis­hed aut­hors of this glo­rious revo­lu­ti­on” berich­tet, der  Gess­ler mutig und ent­schie­den die Stirn gebo­ten hatte.

1796 ver­fass­te der New Yor­ker Regis­seur Will­liam Dun­lap einen Opern­text mit dem Titel: “Die Bogen­schüt­zen, oder: Die Berg­ler des Schwei­z­er­lan­des”, — natür­lich mit Tell im Zen­trum. Er beton­te, die Ent­ste­hung der Schweiz sei jener der Ver­ei­nig­ten Staa­ten sehr ähn­lich, und sie ver­die­ne “beson­de­re Auf­merk­sam­keit bei der Erfor­schung der Grund­la­gen unse­rer eige­nen Unab­hän­gig­keit.”

Tell fand aber auch Ein­gang in den Schul­un­ter­richt: In einem 1837 ver­öf­fent­lich­ten Schul­le­se­buch, das über die Jahr­zehn­te eine Auf­la­ge von immer­hin 122 Mil­lio­nen Exem­pla­re erreich­te, war die Tell-Saga zur Erzie­hung der Jugend mit vol­len fünf­zehn Sei­ten vertreten!

“Wil­helm Tell” Hotel in Kalifornien

Dass unser Tell auch dank der vie­len Schwei­zer Aus­wan­de­rer im 19. Jhdt. sei­ne Spu­ren in der Neu­en Welt hin­ter­liess, leuch­tet ein. Von Brook­lyn bis zur pazi­fi­schen Küs­te tru­gen Dör­fer, Stras­sen, Gast­stu­ben, Hotels, Män­ner­chö­re, Schüt­zen­klubs und gesel­li­ge Ver­ei­ne aller Art sei­nen Namen, und in Tell City im Staa­te India­na wird er im August mit einem gros­sen Fest noch heu­te gefeiert.

Natür­lich war den gebil­de­ten Schich­ten die Dis­kus­si­on um die geschicht­li­che Exis­tenz Tells durch­aus ver­traut. So erschien 1860 im “Atlan­tic Mon­th­ly” ein Arti­kel, der kate­go­risch fest­hielt: “Wil­helm Tell kann nie wie­der als der Grün­der des Schwei­zer Bun­des ange­se­hen wer­den”. Doch tue die­se Erkennt­nis der Schwei­zer Frei­heits­tra­di­ti­on kei­nen Abbruch, denn “der Ein­druck, den wir vom Stu­di­um der Doku­men­te erhal­ten, ist edler, natür­li­cher und lehr­rei­cher als der, den der Legen­d­en­zy­klus uns ver­mit­teln kann.” Die­ser scheint “den Ursprung der ältes­ten föde­ra­ti­ven Repu­blik, die es gibt, des sta­bils­ten moder­nen Staa­tes, von einem Trick abhän­gig zu machen, von den Zufäl­lig­kei­ten eines Pfeils auf sei­nem Flu­ge, wobei er doch auf den ewi­gen Geset­zen mensch­li­cher Brü­der­lich­keit beruht.”

Wohl gespro­chen! Und des­halb füge ich gleich noch die Anfangs­zei­len eines Gedichts an, das 1874 in einer Zeit­schrift in Bal­ti­more erschien:
Hat er gelebt? Was frommt nein oder ja?
Er lebt — und er ist jetzt noch da.
Er kam aus tie­fer Nacht der Zeit
Und steht im Tag der Ewigkeit,
Und jedes Land kennt ihn noch heut.
In Men­schen­her­zen brannt’ die Lie­be hell,
Streng, sto­isch, schweig­sam, eigen­stän­dig: Tell!”

Welch ekla­tan­ter Kon­trast zwi­schen die­sem Bil­de Tells und der Ver­wen­dung unse­res Hel­den als Mas­kott­chen für die “Aeri­al Gun­nery Com­pe­ti­ti­on”, in der ver­schie­de­ne Luft­waf­fen-For­ma­tio­nen ihre Feu­er­kraft gegen­ein­an­der mes­sen. Auch das gehört zu Amerika …

In der nächs­ten Fol­ge blei­ben wir zuerst noch etwas auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, bevor wir uns mit Tell in die wei­te Welt aufmachen.

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1. Mai 2020
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