Was musst du guter Wil­helm Tell Nicht alles dir gefal­len lassen,
Seit­dem der Fran­ken Trom­mel­fell so laut ertönt auf unse­ren Gas­sen …

So beginnt ein sati­ri­sches Gedicht, das 1800 in der “Hel­ve­ti­schen Mona­th­schrift” erschien. Wem es noch gelingt, die deut­sche Frak­tur­schrift zu lesen, dem sei ange­le­gent­lich emp­foh­len, den gan­zen Gedichts­aus­zug zu lesen 🙂 .

Der gute Wil­helm Tell war offen­sicht­lich nach dem Zusam­men­bruch des Anci­en Régime omni­prä­sent, — doch der Spott des Ver­fas­sers ist mit Hän­den zu grei­fen. Irgend etwas war da mit unse­rem Hel­den gründ­lich schief gegangen …

Nun, das ist im Grun­de ein­leuch­tend: Was geschieht, wenn einem ver­knö­cher­ten föde­ra­ti­ven Sys­tem sozu­sa­gen von einem Tag auf den andern von aus­sen ein zen­tra­lis­ti­scher Ein­heits­staat über­ge­stülpt wird? Ganz ein­fach: Chaos!

Als Peter Ochs am 12. April 1798 vom Bal­kon des Aar­au­er Rats­hau­ses die Hel­ve­ti­sche Repu­blik ver­kün­de­te, sahen all jene, die sich eine neue,  freie und brü­der­li­che Gesell­schaft ersehn­ten — Liber­té! Ega­li­té! Fra­ter­ni­té! — das Mor­gen­rot einer neu­en Zeit.

Neue Ver­fas­sung mit Tellenhut

Und es stimm­te ja, die Archi­tek­ten der neu­en hel­ve­ti­schen Ver­fas­sung hat­ten sich viel vorgenommen:
- all­ge­mei­nes Wahlrecht
- Mei­nungs- und Pressefreiheit
- Reli­gi­ons- und Kultusfreiheit
- Han­dels- und Gewerbefreiheit
- Abschaf­fung der Folter
- Abschaf­fung des Zunft­we­sens, aller Zehn­ten, Pri­vi­le­gi­en und   Rechtsungleichheiten
- Ein­füh­rung der Einwohnergemeinden
- Ein­füh­rung des Schwei­zer Fran­kens und der Staatspost
um nur die wich­tigs­ten Pro­jek­te zu nen­nen.

Es gab aller­dings nur einen, aber ent­schei­den­den Schön­heits­feh­ler: Sie waren nicht “auf dem eige­nen Mist gewach­sen”, son­dern wur­den im Schat­ten der fran­zö­si­schen Trom­meln und Bajo­net­te deklariert.

Dazu kam, dass längst nicht alle Eid­ge­nos­sen mit der neu­en Ord­nung ein­ver­stan­den waren:
Eini­ge Patri­zi­er in den Städ­ten waren über ihre Ent­mach­tung und den Ver­lust der Unter­ta­nen­ge­bie­te zutiefst frus­triert, und vie­le Inner­schwei­zer Poli­ti­ker trau­er­ten den lukra­ti­ven Sold­ver­trä­gen nach. Sogar die fort­schritt­lich Gesinn­ten waren sich nicht einig, wie­viel Zen­tra­lis­mus es im neu­en Staat wirk­lich brauch­te, was schon 1800 zu zwei Staats­strei­chen führ­te, — kurz: Chaos!

Und es zeig­te sich bald, dass die heh­ren Brin­ger der Frei­heit auch noch mit ande­ren Absich­ten in die Eid­ge­nos­sen­schaft ein­ge­rückt waren, näm­lich um die Staats­kas­sen zu plün­dern, eine Kriegs­steu­er zu erhe­ben und jun­ge Män­ner für die fran­zö­si­schen Arme­en aus­zu­he­ben, die im Kampf gegen die Koali­ti­ons­ar­me­en Habs­burgs, Russ­lands und Preus­sens standen.

Schon 1799 ver­wan­del­te sich das hel­ve­ti­sche Ter­ri­to­ri­um in ein Schlacht­feld zwi­schen Frank­reich und den kon­ser­va­ti­ven Mäch­ten. Die Bevöl­ke­rung ächz­te unter der Besat­zung durch die ver­schie­de­nen Hee­re. Berüch­tigt die Kriegs­last des Urse­r­en­tals, deren tau­send Ein­woh­ner im Som­mer und Herbst fast eine Mil­li­on Über­nach­tun­gen aller Kriegs­par­tei­en erdul­den muss­ten und ihren gesam­ten Besitz ver­lo­ren. Dazu kam im glei­chen Jahr eine Miss­ern­te mit der ent­spre­chen­den Teue­rung, — kurz: Chaos!

Napo­le­on als Media­tor zwi­schen Unita­ri­ern und Föderalisten

1801 zog der neue star­ke Mann in Frank­reich, Napo­le­on Bona­par­te, die Not­brem­se. Im Schloss Mal­mai­son dik­tier­te er zwei Gesand­ten der Hel­ve­ti­schen Repu­blik eine neue Ver­fas­sung, mit der die Hel­ve­ti­sche Repu­blik die Struk­tur eines Bun­des­staa­tes erhielt. Die “Söh­ne Tells” in der Inner­schweiz, die sich — zusam­men mit ihren Frau­en — gegen­über der fran­zö­si­schen Besat­zungs­macht mehr als ein­mal reni­tent gezeigt hat­ten, erhiel­ten sogar ihre alten Län­der­na­men zurück, nach­dem man sie zuerst unter dem Namen “Tell­gau” zusam­men­fas­sen woll­te und sie dann defi­ni­tiv in “Wald­stät­te” umbe­nannt hatte.

Aber auch damit kehr­te kei­ne Ruhe ein. Der Kampf zwi­schen Unita­rie­ren und Föde­ra­lis­ten ging wei­ter und führ­te inner­halb der nächs­ten 12 Mona­te zu zwei wei­te­ren Staats­strei­chen. Als sich die Fran­zo­sen 1802 zurück­zo­gen, wit­ter­ten die Inner­schwei­zer Mor­gen­luft, führ­ten die Lands­ge­mein­den wie­der ein und ver­trie­ben durch Ter­ror alle hel­ve­tisch gesinn­ten Bür­ger. Im “Steck­li­krieg” wur­de die hel­ve­ti­sche Zen­tral­macht defi­ni­tiv gestürzt. Im Sep­tem­ber dekla­rier­ten die auf­rüh­re­ri­schen Kan­to­ne erneut ihre vol­le Sou­ve­rä­ni­tät, — kurz: Chaos!

Das ver­an­lass­te Napo­le­on, gleich wie­der ein­zu­mar­schie­ren, denn eine sta­bi­le Eid­ge­nos­sen­schaft war für ihn aus stra­te­gi­schen Grün­den wich­tig. Unita­ri­sche und föde­ra­lis­ti­sche Abge­ord­ne­te wur­den im Dezem­ber 1802 nach Paris geor­dert, und im fol­gen­den Febru­ar über­gab Napo­le­on den Dele­gier­ten die Media­ti­ons­ak­te, die — oh Wun­der! — immer­hin für die nächs­ten 10 Jah­re Bestand hat­te, näm­lich genau solan­ge, wie Napo­le­on an der Macht blieb …

Das Tell­denk­mal auf dem Lindenhof

1780 war auf dem Lin­den­hof in Zürich eine Tell-Sta­tue auf­ge­stellt wor­den. Im August 1798 errich­te­ten die neu­en Behör­den um das Denk­mal einen klei­nen Tem­pel, der mit Glo­cken­ge­läu­te und Böl­lern fei­er­lich ein­ge­weiht wur­de. Doch schon im Novem­ber mon­tier­ten Unbe­kann­te die Sta­tue nachts heim­lich ab und lies­sen nur den lee­ren Stein­so­ckel zurück, und sie tauch­te nie mehr auf …

Ist es da ver­wun­der­lich, dass unser Tell in all die­sen Jah­ren ziem­lich ver­wirrt dastand ;-)?

Hier noch eine klei­ne Anek­do­te: 1798 hat­te das Direk­to­ri­um bekannt­lich mit dem Beu­te­geld aus der Eid­ge­nos­sen­schaft den gesam­ten Aegyp­ten­feld­zug unter der Lei­tung Napo­le­ons finan­ziert, der mit der See­schlacht bei Abu­kir ein unrühm­li­ches Ende fand. Die Eng­län­der unter der Lei­tung von Admi­ral Nel­son ver­nich­te­ten fast die gesam­te fran­zö­si­sche Flot­te. Zwei Schif­fen gelang es zu flie­hen, —  eines davon war die “Guil­laume Tell”.

Das Gedicht in der Hel­ve­ti­schen Mona­th­schrift ende­te mit den Zei­len “Ich war! ich leb­te! und ich bin!” Wie tref­fend die­se Aus­sa­ge war, soll­te sich schon am 17. März 1804 zei­gen. Das war der Tag der Urauf­füh­rung eines neu­en Thea­ter­stücks, das unse­rem Hel­den unge­ahn­tes neu­es Leben ein­hau­chen und sein Bild bis heu­te zutiefst prä­gen soll­te: Fried­rich Schil­lers “Wil­helm Tell”!

Ihm wer­den wir uns in der nächs­ten Fol­ge zuwenden.

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