Wilhelm Tell besiegt die Revolution (Balthasar Anton Dunker 1798): Tell trägt die Armbrust und einen Schild, auf dem die drei schwörenden Eidgenossen abgebildet sind. Der Himmel hinter ihm und seinem obligaten Begleiter, dem Sohn Walter, ist von den Strahlen des Triumphs erfüllt. Zu Füssen des Helden liegt ein dreiköpfiges Ungeheuer mit Jakobinermütze, das die Revolution verkörpert
Wie lebte Wilhelm Tell, der im revolutionären Frankreich gerade steile Karriere machte, in diesen unruhigen Jahren in der Alten Eidgenossenschaft?
Eigentlich ganz gut, denn trotz der politischen Verknöcherung und der sozialen Ungerechtigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts erlebte Wilhelm Tell auch hier eine erstaunliche Renaissance: Gewichtige kulturelle Grössen wie Johann Jakob Bodmer, Isaak Iselin (GGG!) oder Albrecht von Haller feierten den Helden. Haller schuf mit seinem Gedicht “Die Alpen” den Mythos eines glücklichen und reinen Hirtenvolks, in den Tell bestens hineinpasste und der zur Geburtsstunde der touristischen Attraktion für Europäer wurde, die in der hehren Bergwelt Labung für Leib und Seele suchten. Johann Caspar Lavater, Freund Goethes und Erneuerer der Physiognomik, widmete unserem Helden ein feuriges Gedicht, das so begann:
“Nein! Vor dem aufgesteckten Hut, Du Mörderangesicht!
bückt sich kein Mann voll Heldenmuth, Bückt Wihelm Tell sich nicht!
Knirsch immer, Du Tyrannenzahn! Wer frey ist, bleibet frey;
Und, wenn er sonst nichts haben kann, Hat er doch Muth und Treu.”
Aber auch in unzähligen Volksfesten und Fasnachtsumzügen war Tell gegenwärtig, und in Luzern schwebte sogar eine Montgolfière namens “Tell” über den Vierwaldstättersee.
Wehe, man wagte es, die Existenz Tells in Frage zu stellen! Dass Voltaire von einer “fable convenue” sprach, konnte man zur Not noch übersehen, aber als der Berner Pfarrer Uriel Freudenberger 1760 die These aufstellte, es handle sich bei unserem Helden um die Nachdichtung eines “dänischen Mährgens”, war die Antwort ein Scheiterhaufen, vom Scharfrichter in Uri persönlich angezündet, — allerdings nicht für Freudenberger selber, der die These wohlweislich anonym veröffentlicht hatte, aber doch für seine erzketzerische Schrift! Haller, der für Freudenbergers Vermutung Sympathie geäussert hatte, beeilte sich daraufhin festzuhalten, seine eigenen kritischen Bemerkungen seien lediglich ein “Scherz” gewesen …
Trotz diesem “Tell-Hype” hält Ricco Labhardt nüchtern fest: “Tell (war) bereits zu einem schwächlichen Zeugen einer altersschwachen Endzeit geworden, zu einem unglaubwürdigen Symbol einer zwar idealistischen, aber kraftlosen Gesinnung.”
Ein Beweis gefällig? Als 1791 im Berner Untertanenland der Waadt zur Erinnerung an den Bastillesturm ein “Föderationsfest” samt Tellenhut mit Kokarde gefeiert wurde, machten Berner Truppen dem Fest abrupten Garaus: “Revolutionäre Lieder — ja; revolutionäre Ambitionen — nein: das war die politische Wirklichkeit der damaligen Schweiz. Tell in feuchtfröhlicher Runde vor dem Zapfenstreich war willkommen; wo er aber unter murrendem Volk auftauchte, wurde er verjagt.” (Labhardt). Tell hatte sich gefälligst auf die Seite der etablierten Macht zu stellen und die Revolution zu bekämpfen, wie das obige Bild Dunkers drastisch veranschaulicht.
Doch im Untergrund lebte der alte Tell weiter, und er war über die aktuelle Gesellschaft des Ancien Régime gar nicht erfreut. In einem Epos des Luzerners Thaddäus Müller machte Tell, der inzwischen mit seinen Kampfgefährten im Elysium weilte, Bekanntschaft mit einen “seidnen Knab mit blossem Kinn, geschminkt an Haut und Haar”- also einem Exemplar des städtischen Patriziats -, und fragte ihn, wie es jetzt im Schweizerland mit der Freiheit bestellt sei.
Lassen wir Müller selber schildern, was dann geschah:
“Kaum fährt vom Mund ein warmer Rauch dem Herrchen ins Gesicht;
(Zwar sanft, wie süsser Mädchen-Hauch, war Tellens Athem nicht),
Kaum rührt ihn an die rohe Haut, und seht! ‑ihm weicht der Sinn.
Er sinket blass und ächzt halb laut: “Gebt Balsam! — Ich bin hin!”
Die Schweizer sehn das Spiel: der lacht, der flucht, der reut sein Blut,
Man ruft: “Wir haben’s weit gebracht durch unsern Heldenmut!” .…
Trotz dieser enttäuschenden Erfahrung gab es für den widerborstigen Tell einen Lichtschimmer: die Gründung der Helvetischen Gesellschaft 1761.
Fortschrittliche Männer aus dem gebildeten Bürgertum und der Aristokratie — darunter als führender Kopf Isaak Iselin -, denen die gravierenden Mängel des Ancien Régime bewusst waren, entwarfen die Vision einer rundum erneuerten Eidgenossenschaft, in der Freiheit, Gleichheit, religiöse Toleranz und die Verbesserung der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen des einfachen Volkes angestrebt würde.
Hier entstand die Idee einer die Trennung von Konfessionen und Kanton überschreitenden Idee der Schweiz, und auch hier war Tell als Symbol einer zukünftigen erneuerten und weltoffenen Eidgenossenschaft sehr lebendig: «Die Überwindung dieser Gräben war schon für die 1761 gegründete Helvetische Gesellschaft die Hauptaufgabe bei der Bildung einer schweizerischen Nation, nicht der Kampf gegen Fremde. So war es gerade diese innere Heterogenität, die einen starken Bezug zu nationalen Mythen hervorrief: Die Köpfe der Helvetischen Gesellschaft betteten den Tell-Mythos jedoch zunächst in einen sehr kosmopolitisch-humanistischen Kontext ein.» (Jo Lang)
Doch 1798 wurde dieses Projekt für erste jählings zerstört: Französische Truppen marschierten mit dem Ruf “Vive les descendants de Guillaume Tell!” in helvetisches Territorium ein, — aus ihrer Sicht nicht als feindliche Eroberer, sondern als Freunde “der würdigen Nachkommen Tells”.
Das Ancient Régime krachte in kurzer Zeit wie ein altes und morsches Gebäude zusammen,
“und über die Trümmer schritt der jakobinische Halbgott Tell” .…
Und damit begann die neue fünfjährige Karriere Wilhelm Tells im neuen Einheitsstaat der Helvetik. Darüber mehr in der nächsten Folge!
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