Plakette der jakobinischen Sektion “Wilhelm Tell”
Eine interessante Frage ist, wie es Tell überhaupt über die Grenze nach Frankreich schaffte.
Ricco Labhardt*, den ich in dieser Folge noch öfters zitieren werde, hat eine plausible Erklärung: “Die Schweizer selbst haben die Geschichte Tells über die Grenzen ihres eigenen Landes gebracht.
Wir wissen, daß bereits im 16. Jahrhundert die Tell-Sage zum festen Bestandteil der schweizerischen Traditionen gehörte, ihr Protagonist schon damals vom «Establishment» verachtet, vom einfachen Volk dagegen verehrt und gefeiert wurde. … Er war schon damals der Schutzpatron der Unterdrückten und Entrechteten gewesen, zu denen auch die Tausende von Hellebardisten, Piquetiers und Armbrustschützen gehörten, die die eidgenössischen Stände lange vor der Revolution an die Kaiser, Könige und Fürsten Europas für Gold und Silber verschachert hatten. Und diese Soldaten waren es gewesen, die wahrscheinlich als erste den Ruhm Wilhelm Teils über die Grenzen ihrer eigenen Heimat getragen hatten.”

Schweizer Söldner in Frankeich 1757
Schon 1584 fand sich eine “Biographie” Tells in einem Lexikon des Franziskanermönchs André Thevet, der sich dabei auf den Oberst der königlichen Leibwache Heinrichs II, den Solothurner Wilhelm Tugginger berief. Allerdings taugte damals Tell in Frankreich noch nicht unbedingt zum Vorbild: “Figure de Suisse” war ein stehendes Schimpfwort für Dummköpfe und Ignoranten 😉
Doch das hatte sich, wie wir in in der letzten Folge gesehen haben, im 18. Jahrhundert definitiv zum Positiven verändert. Noch der letzte königliche Innenminister vor der Revolution schwärmte 1780: “S’il est encore sur la terre un pays où l’homme avec la simplicité de la nature ait conservé la dignité de son être …: c’est la Suisse!” Damit wurde er der politischen Realität in der Alten Eidgenossenschaft allerdings nicht gerecht, denn 1790 — die Revolution hatte inzwischen begonnen — agitierte eine Gruppe von Emigranten aus Fribourg im Namen Tells leidenschaftlich gegen die erstarrten Herrschaftsstrukturen in ihrer Heimat.
Sie hatten damit — man erinnere sich an Henzi — durchaus recht.
Schweizer Söldner in Frankreich standen in der Revolutionszeit gleichzeitig auf seiten der Anhänger der alten monarchischen Ordnung und der radikalen Revolutionäre: 1792 verteidigten sie den königlichen Palast der Tuilerien unter hohen Verlusten (das Luzerner Löwendenkmal erinnert daran), während im gleichen Jahr Söldner des Schweizerregiments “Chateauvieux” in einem von Jakobinern organisierten mehrtägigen Fest als Revolutionshelden gefeiert wurden. Das Regiment hatte zwei Jahre zuvor gemeutert und war teils zum Tode, teils zu Galeerendienst verurteilt worden.
Doch jetzt hatte der Wind definitiv gedreht, und Wilhelm Tell war natürlich dabei: “Am ersten Tag wurden die Märtyrer von «Chateauvieux» zu … Lemierres «Guillaume Tell» geschleppt, am zweiten Tag wurden sie von der Nationalversammlung in endlosen Reden geehrt, … und einige Tage später wälzte sich durch die Straßen der fiebrig erregten Hauptstadt ein riesiger Festzug, in dessen Mitte Wilhelm Tell, auf einem Triumphwagen thronend, die Insignien seiner Tat, Armbrust, Pfeil und Apfel, den ihm zujubelnden Massen zeigte. Und auf einem andern Gefährt dieses Umzuges, auf dem wenige Monate zuvor Voltaires sterbliche Reste ins Pantheon überführt worden waren, war der Urner Schütze von Davids Hand bei der grausamen Mutprobe des Apfelschusses abgebildet …”

Section jacobin “Guillaume Tell”
Aber das war erst der Beginn der revolutionären Karriere Tells in Paris. Als die Revolution wegen royalistischer Aufstände im Innern Frankreichs und dem Angriff von Preussen und Österreich von aussen in höchste Gefahr geriet, beschwörte die jakobinische “Section Guillaume Tell” ihn als Schutzheiligen der Revolution. Lemierres Theaterstück wurde in Paris dreimal pro Woche in mehreren Theatern aufgeführt. Doch nicht nur das:

Taufe bei einer “Feier der Vernunft”
Anlässlich einer “Feier der Vernunft“wurde eine Büste Tells feierlich von zwei ehemaligen Offizieren der Schweizergarde in den “Temple de la Morale” — eine ehemalige Kirche — getragen. “Hinter ihnen schritten anmutige Ehrenjungfern mit Blumenkörben, Zöglinge einer Tanzschule, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, sowie eine Rekrutenkompanie … Die Festrede hielt, nachdem die Tänzer ein Pfeilschützenballett aufgeführt hatten, der «jacobin epure» Bontemps, der mit zahlreichen Ausfällen gegen das verhaßte Österreich dem neuen Schutzpatron des Vereins … seine Reverenz erwies … Den Schluß der ganzen Zeremonie krönte der dithyrambische Schwur, alle grausamen Bedrücker der Erde zu “pulverisieren”. Dann streuten die Ehrenjungfern zu den Hymnen eines Chors ihre Blumen über den Altar, auf dem das «Tabernakel» der Tell-Büste stand …”
Aber nicht nur in Paris wurde Tell gefeiert. In ganz Frankreich wurden Strassen und Plätze neben andern Freiheitshelden nach ihm benannt. Die Vornamen “Brutus” (dem Mörder Cäsars) und “Guillaume” erlebten bei Taufen eine ungeahnte Popularität.
Rico Labhardt fasst sicherlich zu Recht zusammen, wenn er schreibt: “In diesen Zeugnissen war Tell … die Verkörperung der ewigen Sehnsucht des Menschen nach Freiheit. Hier war er, was er im Verlauf der Geschichte stets und immer wieder gewesen ist: der Retter schlechthin, der charismatische Erlöser von Leid und Not, ein Heiliger in einer unheiligen Zeit, die die alten Heiligen
entthront hatte, der neuen aber nicht entbehren konnte.”
Dass die Revolution mit der Schreckensherrschaft von Robespierre, Marat, Danton und St. Just auch eine dunkle Seite entwickelte, ist ein anderes Kapitel …
Doch wie stand es mit Wilhelm Tell in diesen unruhigen Zeiten eigentlich in seiner eigenen Heimat? Das wird das Thema unserer nächsten Folge sein.
*Ricco Labhardt, “Tells revolutionäre und patriotische Maskeraden”, in “Tell. Werden und Wandern eines Mythos”. Verlag Hallwag 1973
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