Dass der Kon­takt der ers­ten Sied­ler auf nord­ame­ri­ka­ni­schem Boden mit den indi­ge­nen Völ­kern in Euro­pa ent­schei­dend zur Ent­ste­hung auf­klä­re­ri­scher Ideen bei­getra­gen hat, kann nach den Aus­füh­run­gen von David Gra­eber und David Wen­grow in ihrem Best­sel­ler “Anfän­ge. Eine neue Geschich­te der Mensch­heit” kaum mehr in Fra­ge gestellt wer­den. Der 1996 ver­stor­be­ne Spre­cher der Iro­ke­sen-Kon­fö­de­ra­ti­on Leon Shen­an­do­ah wies aller­dings dar­auf hin, die ame­ri­ka­ni­schen Kolo­nien hät­ten zwar von den Hau­deno­saunee wich­ti­ge Impul­se für die Grün­dung eines demo­kra­ti­schen Gemein­we­sens auf­ge­nom­men, den wich­tigs­ten Impuls — deren Spi­ri­tua­li­tät — hin­ge­gen nicht.

Dass die Bemer­kung Shen­an­do­ahs zutrifft, zeigt die Tat­sa­che, dass Spi­ri­tua­li­tät in Poli­tik und Wirt­schaft im soge­nann­ten Wes­ten seit jeher nichts zu suchen hat. Doch gibt es inzwi­schen mah­nen­de Stim­men, die dar­in eine Sack­gas­se für die Wei­ter­ent­wick­lung der Mensch­heit hin zu einer welt­wei­ten fried­li­chen Gemein­schaft sehen. So schreibt der kli­ni­sche Psy­cho­lo­ge Harald Wal­ach** in sei­nem lesens­wer­ten Buch “Spi­ri­tua­li­tät. War­um wir die Auf­klä­rung wei­ter­füh­ren müs­sen”:
Wenn wir die Auf­klä­rung kon­se­quent fort­füh­ren wol­len, ist eine undog­ma­ti­sche Spi­ri­tua­li­tät die natür­li­che, ja die not­wen­di­ge Kon­se­quenz für unse­re Kul­tur und ihre Ratio­na­li­tät. Ohne eine sol­che Spi­ri­tua­li­tät sehe ich wenig Hoff­nung, weder für unse­re Kul­tur, noch für ihre Ratio­na­li­tät, noch für die Auf­klä­rung. Wir haben es also mit einer neu­en oder wei­te­ren Dia­lek­tik der Auf­klä­rung zu tun. Ent­we­der inte­griert sie das ver­meint­lich Über­wun­de­ne, Reli­gi­on, oder die­se wird in Form des Fun­da­men­ta­lis­mus sie sel­ber über­win­den. Die Inte­gra­ti­ons­fi­gur einer durch die Auf­klä­rung gegan­ge­nen und durch sie trans­for­mier­ten Reli­gi­on ist für mich das, was ich undog­ma­ti­sche Spi­ri­tua­li­tät nen­ne. Unter Spi­ri­tua­li­tät ver­ste­he ich den erfah­rungs­mäs­si­gen Kern­ge­halt einer Reli­gi­on, im Gegen­satz zu ihrem dok­tri­när-dog­ma­ti­schen Gewand.

Als Wis­sen­schaft­ler steht er aller­dings mit die­ser Hal­tung (noch) auf ziem­lich ein­sa­mem Posten:
Mei­ne For­schungs­tä­tig­keit im Bereich unkon­ven­tio­nel­ler medi­zi­ni­scher The­ra­pien, wie der Homöo­pa­thie, der Geist­hei­lung, der Acht­sam­keits­me­di­ta­ti­on, aber auch jün­ge­re Ver­su­che, das The­ma Spi­ri­tua­li­tät stär­ker in der For­schung zu ver­an­kern, haben mir zwei­er­lei gezeigt: zum einen, wie stark das Bedürf­nis in der Bevöl­ke­rung ist, vor­han­de­ne Erfah­run­gen in ein kohä­ren­tes Welt­bild ein­zu­ord­nen oder aber Räu­me zu fin­den, in denen sie sol­che Erfah­run­gen machen oder tei­len kön­nen. Zum ande­ren, wie gross der Wider­stand vie­ler Fach­kol­le­gen und Intel­lek­tu­el­ler ist, die­sem The­ma einen gebüh­ren­den Raum zu geben, nicht sel­ten gepaart mit einer kaum erträg­li­chen Kom­bi­na­ti­on aus Igno­ranz und Arro­ganz. “Eso­te­rik”, “Magie”, “Okkul­tis­mus”, “Quack­sal­be­rei” sind die Eti­ket­ten, mit denen man sol­che ver­meint­lich intel­lek­tu­el­le Por­no­gra­fie belegt, damit man unge­stört zum Tages­ge­schäft über­ge­hen kann.

Und so schreibt er in der Ein­lei­tung zum Buch etwas resigniert:
Die­ses Buch stellt einen Tabu­bruch dar, indem es ein The­ma auf­greift, über das nur an ganz spe­zi­ell reser­vier­ten Orten der Gesell­schaft gespro­chen wer­den darf, ohne die Eti­ket­te zu ver­let­zen. … Hun­dert Jah­re, nach­dem Sig­mund Freud und Kol­le­gen die Sexua­li­tät aus der Schmud­del­ecke der mensch­li­chen Gesell­schaft befreit und damit zunächst wis­sen­schaft­lich, dann auch gesell­schaft­lich dis­ku­ta­bel gemacht haben, sind wir indi­vi­du­ell oder kol­lek­tiv kaum in der Lage, Spi­ri­tua­li­tät zu the­ma­ti­sie­ren. … Ähn­lich wie Sexua­li­tät bio­lo­gisch not­wen­dig war und ist, damit die bio­lo­gi­sche Evo­lu­ti­on vor­an­kam und die mensch­li­che Fort­pflan­zung gewähr­leis­tet ist, so ist Spi­ri­tua­li­tät nötig, damit auch eine psy­cho­lo­gisch-kul­tu­rel­le Evo­lu­ti­on indi­vi­du­ell und kol­lek­tiv mög­lich wird. … Weil wir kei­ner­lei wis­sen­schaft­li­che Vor­stel­lun­gen dar­über haben, wie Spi­ri­tua­li­tät, aus­ser in einem vagen anthro­po­lo­gisch-theo­lo­gi­schen Sinn, in unse­rem mensch­li­chen Wesen ver­an­kert ist, kommt uns die Dis­kus­si­on die­ser Fra­ge als poten­zi­ell unwis­sen­schaft­lich, pein­lich oder bes­ten­falls frag­wür­dig vor.

Und er zieht den Schluss, dass das Igno­rie­ren von Spi­ri­tua­li­tät bis hin zu ihrem völ­li­gen Ver­drän­gen aus dem kol­lek­ti­ven Bewusst­sein unse­rer Kul­tur ähn­lich gefähr­lich und pro­ble­ma­tisch ist wie das Ver­drän­gen von Sexualität.

Um nun auf die Bemer­kung von Leon Shen­an­do­ah zurück­zu­kom­men: Ähn­lich wie im 17. Jahr­hun­dert die weis­sen Sied­ler im Nord­os­ten vie­le Impul­se indi­ge­ner Gesprächs­part­ner auf der poli­ti­schen Ebe­ne auf­ge­nom­men haben, lohnt es sich viel­leicht, sich heu­te auch mit deren spi­ri­tu­el­len Impul­sen aus­ein­an­der­zu­set­zen und zu unter­su­chen, was wir dar­aus ler­nen kön­nen.  Das tun wir wie ange­kün­digt mit­tels des Buchs “Thin­king Indian. A John Mohawk Rea­der” und anschlies­send mit wei­te­ren rele­van­ten indi­ge­nen Quel­len. Dies aller­dings erst am Don­ners­tag, den 12. Janu­ar, da der birsfaelder.li-Schreiberling nach Weih­nach­ten bis zum 9. Janu­ar eine Aus­zeit neh­men wird. (Dazu mehr am Samstag).

** Prof. Harald Wal­ach ist wegen sei­ner kri­ti­schen Stel­lung­nah­men zu den Covid-Impf­kam­pa­gnen kürz­lich ins Kreuz­feu­er der Kri­tik gera­ten. Das tut aber der Vali­di­tät sei­ner Aus­füh­run­gen kei­nen Abbruch, wie ein Blick auf das Buch-Inhalts­ver­zeich­nis deut­lich macht.

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