Angesichts der sich völlig widersprechenden Angaben zur Herkunft Cagliostros und der fehlenden vertrauenswürdigen Quellen für seine wahrscheinlichen vorausgehenden Reisen nach Spanien und Portugal beginnen wir mit der Ankunft Cagliostros und seiner Frau Sarafina in London im Juli 1776. Das Paar richtete sich in einer komfortablen Wohnung ein und Cagliostro betrieb in seinem neu eingerichteten Laboratorium alchemistische Studien.
Der französische Gossenjournalist, Erpresser, Spion und Herausgeber der Zeitung “Courier de l’Europe”, Théveneau de Morande, fasste dessen Aufenthalt in England später so zusammen:
In London lebte Cagliostro davon, dass er die Naivität der “Glücksspieler” ausnutzte, denen er vorgaukelte, er besitze die “Wissenschaft der Zahlenvorhersage und des Goldmachens”. Mit diesen Mitteln erpresste er große Summen von ihnen. Da jedoch keiner von ihnen seine Wünsche erfüllt sah, entdeckten sie schließlich den Betrug, denunzierten den Schwindler und ließen ihn mehrmals ins Gefängnis werfen. Er schwor und ließ seine Frau schwören, dass sie nichts erhalten hatten, und so entkamen sie den Händen des Gesetzes.
Das ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie man die Wahrheit um 180° auf den Kopf stellen kann. Morande war ein von der französischen Monarchie gekaufter Journalist. Sein Auftrag: die Reputation Cagliostros nach der sog. Halsbandaffäre (siehe später) mit allen Mitteln zu zerstören.
In Tat und Wahrheit war es gerade umgekehrt. Da sowohl Cagliostro wie seine Frau des Englischen nicht wirklich mächtig waren, stützten sie sich auf zwei Personen ab, die sie in ihre Dienste nahmen. Da beide schon bald erkannten, dass Cagliostro sowohl reich als auch naiv war, beschlossen sie, die Gelegenheit zu nutzen:
Nachdem sie den Cagliostros einen gewissen “Lord” Scot und seine Komplizin Miss Fry vorgestellt hatten, machten sich die drei Betrüger daran, einen Weg zu finden, den Grafen um sein vermeintliches Vermögen zu erleichtern.
Innerhalb kürzester Zeit wurden die Cagliostros mit neuen “Freunden” überschwemmt, die alle mehr über die Neuankömmlinge wissen wollten und von der Behauptung des Professors (Scot) fasziniert waren, der Graf könne in seinem Labor Metalle umwandeln. Als sie die Cagliostros so anfällig für Täuschungen fanden, drehte sich das Gespräch eines Abends um die Idee der Lotterie. Da erinnerte sich Cagliostro an eine kabbalistische Formel, die er einmal gelesen hatte und die die Gewinnzahlen vorhersagen konnte. Natürlich flehten ihn seine Freunde an, dieses bemerkenswerte Talent zu offenbaren, und nach viel Druck gab er nach, und um das System zu testen, riskierte Scot “eine Kleinigkeit” und gewann über hundert Pfund.
Cagliostro reagierte auf die Ergebnisse zwiespältig; viel mehr mit seiner Alchemie beschäftigt, mied er die Reaktion seiner Bekannten, da er ihr Gezerre um Geld als niedere Natur ansah. Daraufhin wurde er mehrere Monate lang von Leuten wie Scot und Fry belästigt, bis sie ihn in ihrer Verzweiflung wegen erfundener Anschuldigungen vor Gericht brachten, was zu einem einmonatigen Aufenthalt im King’s Bench Prison führte.
(Faulks/Cooper, The Masonic Magician)
Das Drama begann, als es Cagliostro auf ihre Bitten hin gelang, mit Hilfe des kabbalistischen Manuskripts ein zweites Mal die richtige Gewinnzahl vorauszusagen und den Komplizen so zu einem kleinen Vermögen zu verhelfen. Damit war ihre Gier definitiv erwacht, doch zu ihrer Enttäuschung weigerte sich Cagliostro standhaft ihnen weiter entgegenzukommen.
Darauf taten sich die Komplizen mit einem korrupten Gerichtsbeamten zusammen und brachen in die Wohnung ein, um an das Manuskript zu gelangen. Zu ihrem Leidwesen mussten sie feststellen, dass es für sie ohne die Hilfe Cagliostros wertlos war. Der sass inzwischen wieder einmal im Gefängnis.
Der Aufenthalt in London bot aber auch einen Lichtblick, nämlich die Aufnahme Cagliostros und Sarafinas in die freimaurerische Esperance Lodge in Soho im April 1776. Sie gehörte dem Ritus der Strikten Observanz an. Es könnte allerdings sein, dass der Alchemist schon Freimaurer war, denn er wurde am gleichen Abend in mehrere Grade aufgenommen.
Doch damit nicht genug: Wenig später fiel ihm ein geheimnisvolles Manuskript in die Hand. Es war eine Abhandlung über die ägyptischen Ursprünge der Freimaurerei, geschrieben von George Cofton (oder Coston). Wenig oder nichts ist über die Ursprünge dieses obskuren Freimaurertextes bekannt. Niemand hat das Original gefunden. Einige sagen, Cofton sei ein ehemaliger irisch-katholischer Priester gewesen, der das Modell eines ägyptischen Ritus aus den Rosenkreuzer-beeinflussten Lehren eines anderen kontinentalen Mystikers, Martines de Pasqually, entwickelte, aber er könnte auch ein unbedeutender Oxford-Gelehrter der östlichen Religion namens George Costard gewesen sein, der um diese Zeit mehrere Werke über antike Magie verfasste. (McCalman, The Last Alchemist).
Dieses Manuskript scheint entscheidend für die Entwicklung seines eigenen freimaurerischen Systems gewesen zu sein, das wir uns später genauer anschauen werden.
Im Dezember 1777 wurde die Situation in London für die Cagliostros definitiv unerträglich und sie setzten nach Calais auf den Kontinent über, wo Cagliostro seine Tätigkeit als Freimauer, Alchemist und Magier aufnahm. Bevor wir dort seinen Spuren folgen, macht es allerdings Sinn, zuerst einen Blick auf die sog. “okkulten Künste” der Alchemie, der Kabbala und der Magie zu werfen, — und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 31. Juli
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