Ich wusste nicht, worauf ich mich mit dem Vorschlag in der letzten Folge einliess, einen Blick auf die Bemühungen zu werfen, die alte Reichsidee in neuem Gewand wieder aufleben zu lassen. Kleines Beispiel: Das Buch “Die Reichsidee 1918–1945″ von Hans-Georg Meier-Stein umfasst über 500 kleingedruckte Seiten …
Die Problematik des Vorhabens beginnt aber schon bei der Frage, was man denn nun genau unter dem “Heiligen Römischen Reich” zu verstehen habe. Abgesehen von der allseits anerkannten Tatsache, dass seiner Entstehung ein christlich-religiöser Impuls zugrunde liegt, streiten sich die Fachhistoriker zum Beispiel bei der Frage, wie denn genau sich dessen Charakter über die Jahrhunderte gewandelt hat, und wann und ob überhaupt im Laufe der Zeit nationalstaatliche Elemente eingeflossen sind.
Trotzdem ist die Ahnung, dass die Aufteilung Europas in fest umrissene und autonome Nationalstaaten vielleicht noch nicht das Ende der geschichtlichen Entwicklung sein könnte, nie ganz erloschen und hat kreative Köpfe dazu ermuntert, sich Gedanken dazu zu machen. Paradigmatisch seien erwähnt Constantin Frantz, der im 19. Jahrhundert von einem föderativ zusammengeschlossenen Mitteleuropa träumte, Richard Coudenhove-Calergi mit seiner paneuropäischen Vision, oder Otto von Habsburg mit seinem Manifest “Die Reichsidee. Geschichte und Zukunft einer übernationalen Ordnung”.
Manfred Ehmer schreibt in der Einleitung zu seinem Buch “Mitteleuropa. Die Vision des politischen Romantikers Constantin Frantz”:
Mitteleuropa – das ist ein in Jahrhunderten gewachsener, sprachlichkulturell und geopolitisch bestimmbarer Lebensraum, der nicht allein Deutschland umfasst, sondern auch die Schweiz und Österreich, die Benelux-Staaten und die slawischen Nachbarn Deutschlands im Osten: Polen, die Tschechei und Ungarn.
Dabei ist dieser Lebensraum Mitteleuropa als ein in sich zusammenhängender Kultur- und Wirtschaftsraum zu sehen, nicht aber als politische Einheit. Eine gemeinsame politische Organisationsform für Mitteleuropa ist bisher nie zustande gekommen, vielleicht auch nie ernsthaft versucht worden. Dennoch müssen wir uns die Frage stellen: Wie könnte ein Konzept für ein politisch geeintes Mitteleuropa aussehen?
Die Vielfalt der Völker und Kulturen in Mitteleuropa, auch der ethnischen und sprachlichen Minderheiten in diesem Lebensraum, würde eine zentral gelenkte politische Organisationsform von vornhinein verbieten. In Frage käme wohl nur eine Mitteleuropäische Föderation, eher ein Staatenbund als ein Bundesstaat, in dem alle angeschlossenen Mitglieder ihre volle Selbständigkeit bewahren würden. Nur nach außen würde dieser Mitteleuropäische Völkerbund in Erscheinung treten durch eine gemeinsame Außenpolitik, gemeinsame Vertretungs- und Rechtsprechungsorgane, etwa ein mitteleuropäisches Völkerparlament, sowie durch eine gemeinsame Währung – nach Innen aber wäre jedes Mitglied selbständig im Rahmen einer sehr weitgehenden politischen Selbstverwaltung.
Gegenüber den Vereinigten Staaten von Nordamerika und der ehemaligen Sowjetunion würde ein solcherart politisch geeintes Mitteleuropa als neue politische Kraft auftreten können, als “Dritte Macht” im Dienste des weltpolitischen Ausgleichs und der internationalen Vermittlung. Denn wer würde bestreiten, dass Mitteleuropa schon seiner geopolitischen Lage wegen der Berufung zu folgen hat, die Weltgegensätze von West und Ost, Nord und Süd in sich aufzunehmen und vermittelnd auszugleichen? Im Hinblick auf Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft könnte die Mitteleuropäische Föderation der USA und der ehemaligen Sowjetunion durchaus ebenbürtig sein, aber sie wäre trotzdem keine “Weltmacht” im althergebrachten Sinne, sondern eine neutrale Macht der Vermittlung und der Friedensstiftung. Mitteleuropa, durch eine gemeinsame politische Organisationsform geeint, strebt nicht nach eigener Größe, sondern dient ausschließlich dem Weltfrieden!
Ein solches Projekt stünde natürlich dem aktuellen EU-Europa diametral entgegen. Was geschähe dann mit dem lateinisch geprägten Europa im Westen und Süden? Mit dem Balkan?
Vielleicht lohnt sich ein Blick in das Buch des 2011 fast hundertjährig verstorbenen Otto von Habsburg, ältester Sohn von Karl I., dem letzten Kaiser von Österreich und König von Ungarn? Als Spross einer Dynastie, die einem Vielvölker-Reich vorstand und die Geschichte Europas wie keine andere prägte, hat er uns vielleicht die eine oder andere interessante Idee zu bieten.
Bevor wir das tun, muss allerdings festgehalten werden, dass der allgemeine Tenor in dieser Angelegenheit — nämlich der Wiederauferstehung des Reiches in einer regenerierten Form — höchst pessimistisch ist. So hält Prof. Dr. Bernd Schneidmüller in seinem Artikel “Römisch — heilig — deutsch” fest:
Immer wieder versuchte man, die Besonderheiten dieses eigentümlichen Gebildes zu erklären. Es war anders als seine Nachbarn und kein Staat im modernen Sinn. Vielmehr kam es mit erstaunlich wenigen Regeln durch die Zeiten und bot seinen Gliedern weite Entfaltungsspielräume. „Teutsche Libertät“ wurde zum Schlagwort für Vielfalt und Aushandlung. In den letzten Jahrhunderten seiner Existenz gingen keine Angriffskriege von ihm mehr aus. Dagegen wurde es zum Schauplatz großer Kriege, die andere Mächte auf seinem Boden ausfochten.
Wegen seiner übernationalen Offenheit wollen manche heutzutage das Heilige Römische Reich sogar als Konzept für die europäische Zukunft empfehlen. Das ist ein untauglicher Vorschlag. Geschichte bietet keine Kopiervorlagen. Sie weckt allenfalls Sensibilität für Gegenwart und Zukunft. Die Deutschen machten ihren Nachbarn im 20. Jahrhundert das Reich so unerträglich, daß schon das bloße Wort provoziert.
Das wilhelminische Kaiserreich und der Nationalsozialismus bemächtigten sich als zweites und drittes Reich der tausendjährigen Vergangenheit, und dieser Mißbrauch überschattet immer noch das historische Urteil. Gegen jedes mittelalterliche Selbstverständnis ließ man Karl den Großen oder Otto den Großen zu deutschen Kaisern werden. Schonungslos stellten die Nationalsozialisten deutsches Mittelalter in Dienst, benannten SS-Divisionen als „Hohenstaufen“ oder „Charlemagne“ (für französische Freiwillige der Waffen-SS), bezeichneten den Überfall auf die Sowjetunion als „Unternehmen Barbarossa“ und stilisierten das Reich zur immerwährenden europäischen Ordnungsmacht. Aus dieser Benutzung läßt sich die ältere Geschichte so schwer herausschälen wie aus den Negativurteilen jener Historiker, die das spätmittelalterliche oder frühneuzeitliche Reich wegen seiner Ineffektivität schalten oder es als Monstrum bezeichneten.
Hans-Georg Meier-Stein, der Autor des oben erwähnten dicken Wälzers, hat sich dieser Frage in seinem Artikel “Gewinnt die Reichsidee an Aktualität?” ebenfalls gewidmet. Seine Betrachtung, warum sie heute “aus der Zeit gefallen ist”, geht einher mit einer schonungslosen Kritik an der heutigen europäischen Gesellschaft, — und sein Bedauern über diese Entwicklung ist unüberhörbar.
Es lohnt, sich mit einigen seiner Gedankengänge auseinanderzusetzen, — und genau das werden wir in der kommenden Folge am 10. September auch tun.
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