Die let­zten Abschnitte des Buchs “Haben oder Sein” von Erich Fromm lüften das Geheim­nis, welchen Ausweg der grosse Psy­cho­an­a­lytik­er aus der sich immer klar­er abze­ich­nen­den Sack­gasse sieht, in der die Men­schheit steckt:
Unsere einzige Hoff­nung ist die Energie spendende Kraft, die von ein­er neuen Vision aus­ge­ht. Diese oder jene Reform vorzuschla­gen, ohne das Sys­tem von Grund auf zu erneuern, ist auf lange Sicht gese­hen sinn­los, denn solchen Vorschlä­gen fehlt die mitreißende Kraft ein­er starken Moti­va­tion. Das „utopis­che“ Ziel ist real­is­tis­ch­er als der „Real­is­mus“ unser­er heuti­gen Poli­tik­er. Die neue Gesellschaft und der neue Men­sch wer­den nur Wirk­lichkeit wer­den, wenn die alten Moti­va­tio­nen – Prof­it und Macht – durch neue erset­zt wer­den: Sein, Teilen, Ver­ste­hen; wenn der Mark­tcharak­ter durch den pro­duk­tiv­en, liebesfähi­gen Charak­ter abgelöst wird und an die Stelle der kyber­netis­chen Reli­gion ein neuer radikal-human­is­tis­ch­er Geist tritt.

Tönt gut — die Frage ist nur, worin diese neue Vision beste­hen soll. Die Vision des Marx­is­mus ein­er friedlich geein­ten klassen­losen Gesellschaft erlebte einen ekla­tan­ten Schiff­bruch, von dem er sich nie wieder erholen wird. Die Vision des Chris­ten­tums ein­er “neuen Erde” ist zwar noch nicht tot, aber ger­ade daran, von einem eigentlichen “Fake-Chris­ten­tum” (christlich­er Nation­al­is­mus, usw) ver­drängt zu wer­den.

Gibt es noch andere Visions-Vari­anten? Erich Fromm bejaht dezi­diert:
Die entschei­dende Frage ist in der Tat, ob eine Kon­ver­sion zu ein­er human­is­tis­chen Reli­giosität ohne „Reli­gion“, ohne Dog­men und Insti­tu­tio­nen zus­tande kommt, eine Reli­giosität, deren Weg­bere­it­er die nicht-the­is­tis­chen Bewe­gun­gen vom Bud­dhis­mus bis zum Marx­is­mus waren. Wir ste­hen nicht vor der Alter­na­tive „selb­st­süchtiger Mate­ri­al­is­mus oder Annahme des christlichen Gottes­be­griffs“. Im Leben in der Gemein­schaft – in allen seinen Aspek­ten wie Arbeit, Freizeit und zwis­chen­men­schliche Beziehun­gen – wird sich dieser religiöse Geist ver­wirk­lichen, ohne dass wir ein­er davon abge­tren­nten Reli­gion bedür­fen. Diese Forderung nach ein­er neuen nicht-the­is­tis­chen, nicht-insti­tu­tion­al­isierten Reli­giosität ausgenom­men für diejeni­gen Anhänger der tra­di­tionellen Reli­gio­nen, die den human­is­tis­chen Kern ihrer Reli­gion authen­tisch erleben,  ist kein Angriff auf die beste­hen­den Reli­gio­nen. Es ist jedoch ein Appell an die römisch-katholis­che Kirche, ange­fan­gen bei der römis­chen Bürokratie, sich selb­st zum Geist des Evan­geli­ums zu bekehren. Es bedeutet nicht, dass die „sozial­is­tis­chen Län­der“ „entsozial­isiert“ wer­den sollen, son­dern dass ihr bürokratis­ch­er Schein­sozial­is­mus durch einen echt­en, human­is­tis­chen Sozial­is­mus erset­zt wird.

Und im let­zten Abschnitt des Buchs stellt er tat­säch­lich eine ein­drück­liche neue Vision vor:
Die spät­mit­te­lal­ter­liche Kul­tur blühte, weil die Vision von der Stadt Gottes die Men­schen beflügelte. Die Gesellschaft der Neuzeit blühte, weil die Vision der Irdis­chen Stadt des Fortschritts die Men­schen mit Energie erfüllte. In unserem Jahrhun­dert hat diese Vision jedoch die Züge des Turms von Babel angenom­men, der jet­zt einzustürzen begin­nt und schließlich alle unter seinen Trüm­mern begraben wird. Wenn die Stadt Gottes und die Irdis­che Stadt These und Antithese darstell­ten, dann ist eine neue Syn­these die einzige Alter­na­tive zum Chaos: die Syn­these zwis­chen dem religiösen Kern der spät­mit­te­lal­ter­lichen Welt und der Entwick­lung des wis­senschaftlichen Denkens und des Indi­vid­u­al­is­mus seit der Renais­sance. Diese Syn­these ist die Stadt des Seins.

Jet­zt geht es nur noch darum, sie in die Tat umzuset­zen …

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