Worin liegt der Unter­schied zwis­chen “eine Mei­n­ung haben” und “von etwas überzeugt sein”? Ist das nicht das Gle­iche, ein­fach anders aus­ge­drückt?

Erich Fromm macht da einen klaren Unter­schied aus:
Um zu echt­en Überzeu­gun­gen zu kom­men, bedarf es zweier Voraus­set­zun­gen: adäquate Infor­ma­tio­nen und das Bewusst­sein, dass die eigene Entschei­dung wirk­mächtig ist. Die Mei­n­un­gen des macht­losen Zuschauers drück­en nicht dessen Überzeu­gun­gen aus, son­dern sind so unverbindlich und triv­ial wie die Bevorzu­gung ein­er Zigaret­ten­marke. Aus diesen Grün­den repräsen­tieren die in Umfra­gen und Wahlen geäußerten Mei­n­un­gen die niedrig­ste, nicht die höch­ste Ebene men­schlich­er Urteils­fähigkeit.

Man kön­nte hinzufü­gen, dass Überzeu­gun­gen eine aktive Beteili­gung implizieren, wohinge­gen Mei­n­un­gen lediglich Aus­druck ein­er von aussen ges­teuerten inneren und äusseren Pas­siv­ität sind. Das wird am fol­gen­den Beispiel Fromms deut­lich:
… Geschworene sind Durch­schnitts­bürg­er, die oft über sehr kom­plizierte und schw­er durch­schaubare Fälle urteilen müssen. Doch sie erhal­ten alle rel­e­van­ten Infor­ma­tio­nen, sie haben Gele­gen­heit zu aus­giebiger Diskus­sion und sie wis­sen, dass ihr Urteil über Leben und Glück des Angeklagten entschei­det. Die Folge ist, dass ihre Entschei­dun­gen im Großen und Ganzen von einem hohen Maß an Ein­sicht und Objek­tiv­ität zeu­gen.
Im Gegen­satz dazu kön­nen nicht-informierte, halb hyp­no­tisierte und macht­lose Men­schen keine ern­sthaften Überzeu­gun­gen aus­drück­en. Ohne Infor­ma­tion, Gele­gen­heit zur Beratung und die Macht, Entschei­dun­gen wirkungsvoll zu machen, haben die in ein­er Demokratie geäußerten Mei­n­un­gen kaum mehr Gewicht als der Applaus bei ein­er Sportver­anstal­tung.

Er zieht daraus das Faz­it, dass wir alle “ein unaus­geschöpftes Poten­tial men­schlich­er Urteil­skraft ” besitzen, das aktiviert wer­den kann, wenn wir uns bei der Lösung eines Prob­lems inner­lich wirk­lich engagieren und nicht ein­fach irgen­deine Mei­n­ung “als die unsere” übernehmen, obwohl sie lediglich von aussen an uns herange­tra­gen wurde: Die per­sön­lichen Entschei­dun­gen sind meist viel klüger als ihre poli­tis­chen.

Ein inter­es­santes Exper­i­ment in Deutsch­land zeigt, wie das Aktivieren dieses Poten­tials in den sog. Bürg­er­räten” zu kreativ­en poli­tis­chen Vorschlä­gen führt. Per Los wer­den Bürg­erin­nen und Bürg­er aus allen Alter­sklassen und ver­schieden­sten poli­tis­chen Rich­tun­gen aus­gewählt, um sich mit einem konkreten Prob­lem auseinan­derzuset­zen:
Bürg­er­räte set­zen auf das Losver­fahren. Die Teil­nehmerin­nen und Teil­nehmer wer­den per Zufall­sauswahl aus den Ein­wohn­er­meldereg­is­tern ermit­telt und ein­ge­laden — natür­lich mit Aufwand­sentschädi­gung — an einem Bürg­er­rat teilzunehmen. Abends oder an Woch­enen­den tre­f­fen sich die zufäl­lig aus­gewählten Men­schen, um in der großen Runde die The­men zu umreißen und in kleinen Grup­pen Details zu disku­tieren und Lösungsvorschläge zu find­en. Dabei bekom­men sie von Exper­tin­nen und Experten alle notwendi­gen Infor­ma­tio­nen, so dass alle auf dem gle­ichen Wis­sens­stand sind. Als Exper­tin­nen und Experten wer­den die unter­schiedlich­sten Men­schen aus der Poli­tik und Wis­senschaft, aus den Medi­en oder von Ver­bän­den aus­gewählt, um nicht nur Infor­ma­tio­nen aus ein­er bes­timmten Blase zu bekom­men.

Bürg­er­rat-Ver­samm­lun­gen sind ein Abbild der Bevölkerung. Denn aus den Bewer­bun­gen der ein­ge­lade­nen Aus­gelosten wird die Gruppe der Teil­nehmer so zusam­menge­set­zt, dass sie nach Kri­te­rien wie Alter, Geschlecht, Bil­dung, Wohnort und Migra­tionsh­in­ter­grund der Zusam­menset­zung der Bevölkerung entspricht. Dadurch brin­gen die Men­schen in einem Bürg­er­rat eine große Vielfalt an Lebenser­fahrun­gen und Per­spek­tiv­en mit sich. Diese Diver­sität sorgt für ein hohes Diskus­sion­sniveau und qual­i­ta­tiv hochw­er­tige Ergeb­nisse.

Bürg­er­räte set­zen sich nicht aus den “üblichen Verdächti­gen” zusam­men, die andere Beteili­gungsver­fahren oft dominieren. Auch Lob­by­is­ten und Inter­es­sen­grup­pen haben keinen Platz in den Diskus­sion­srun­den. Als Grup­pen mit Fach­wis­sen kön­nen diese aber als Wis­sensver­mit­tler in Bürg­er­räten dienen.

Weil Deutsch­land eine repräsen­ta­tive Demokratie ist, übernehmen die Bürg­er­räte zurzeit lediglich eine Rat­ge­ber-Rolle: Sie kön­nen der Poli­tik als Kom­pass für anste­hende Entschei­dun­gen dienen. Trotz­dem haben sie für alle Teil­nehmenden eine höchst pos­i­tive Wirkung: Sie leit­en an zum Zuhören, zur aktiv­en Auseinan­der­set­zung mit divergieren­den Posi­tio­nen und so vielle­icht zur Hin­ter­fra­gung der eige­nen Mei­n­ung oder zur Fes­ti­gung dieser Mei­n­ung, die dann zur Überzeu­gung wird.

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