Albert Schweit­zer begrün­de­te das Ver­sa­gen der Phi­lo­so­phie in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts so: (Aus­zug aus sei­nem 1923 erschie­ne­nen Buch “Ver­fall und Wie­der­auf­bau der Kul­tur”)
Aus einem Arbei­ter am Wer­den einer all­ge­mei­nen Kul­tur­ge­sin­nung war die Phi­lo­so­phie nach dem Zusam­men­bruch in der Mit­te des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts ein Rent­ner gewor­den, der sich fern von der Welt mit dem, was er sich geret­tet hat­te, beschäf­tig­te. Sie wur­de zur Wis­sen­schaft, die die Ergeb­nis­se der Natur­wis­sen­schaf­ten und der his­to­ri­schen Wis­sen­schaf­ten sich­te­te und als Mate­ri­al zu einer zukünf­ti­gen Welt­an­schau­ung zusam­men­trug und dem­entspre­chend einen gelehr­ten Betrieb auf allen Gebie­ten unter­hielt. Zugleich wur­de sie immer von der Beschäf­ti­gung mit ihrer eige­nen Ver­gan­gen­heit absor­biert. Fast wur­de die Phi­lo­so­phie zur Geschich­te der Phi­lo­so­phie. Der schöp­fe­ri­sche Geist hat­te sie ver­las­sen. Mehr und mehr wur­de sie eine Phi­lo­so­phie ohne Den­ken. Wohl dach­te sie über die Resul­ta­te der Ein­zel­wis­sen­schaf­ten nach, aber das ele­men­ta­re Den­ken kam ihr abhanden.

Mit­lei­dig blick­te sie auf den über­hol­ten Ratio­na­lis­mus zurück. Stolz rühm­te sie sich, „durch Kant hin­durch­ge­gan­gen zu sein‘‘, von Hegel , geschicht­li­ches Ver­ständ­nis emp­fan­gen zu haben‘‘ und „in enger Füh­lung mit den Natur­wis­sen­schaf­ten zu arbei­ten‘‘. Dabei war sie aber ärmer als der ärms­te Ratio­na­lis­mus, weil sie den öffent­li­chen Beruf der Phi­lo­so­phie, den jener so aus­gie­big geübt hat­te, nur noch in der Ein­bil­dung, aber nicht mehr in der Wirk­lich­keit erfüll­te. Jener war bei aller Nai­vi­tät wah­re, wir­ken­de Phi­lo­so­phie, sie aber bei aller Ein­sicht nur gelehr­te Epi­go­nen­phi­lo­so­phie. Auf Schu­len und Hoch­schu­len spiel­te sie noch eine Rol­le; aber der Welt hat­te sie nichts mehr zu sagen.

Welt­fremd war sie gewor­den, bei allem Wis­sen. Die Lebens­pro­ble­me, die die Men­schen und die Zeit beschäf­tig­ten, spiel­ten in ihrem Betrie­be kei­ne Rol­le. Ihr Weg lief abseits von dem des all­ge­mei­nen geis­ti­gen Lebens. Wie sie von die­sem kei­ne Anre­gun­gen emp­fing, so gab sie ihm auch kei­ne. Weil sie sich mit den ele­men­ta­ren Pro­ble­men nicht beschäf­tig­te, unter­hielt sie kei­ne Ele­men­tar­phi­lo­so­phie, die zur Popu­lar­phi­lo­so­phie wer­den konnte.

Aus ihrem Unver­mö­gen ent­sprang ihre Abnei­gung gegen jedes all­ge­mein­ver­ständ­li­che Phi­lo­so­phie­ren, die fiir ihr Wesen so cha­rak­te­ris­tisch ist. Popu­lar­phi­lo­so­phie war für sie nur eine für den Gebrauch der Men­ge her­ge­stell­te, ver­ein­fach­te und dem­entspre­chend ver­schlech­ter­te Über­sicht über die von ihr gesich­te­ten und auf eine kom­men­de Welt­an­schau­ung zuge­schnit­te­nen Ergeb­nis­se der Ein­zel­wis­sen­schaf­ten. Dass es eine Popu­lar­phi­lo­so­phie gibt, die dar­aus ent­steht, daB die Phi­lo­so­phie auf die ele­men­ta­ren, inner­li­chen Fra­gen, die die Ein­zel­nen und die Men­ge den­ken oder den­ken sol­len, ein­geht, sie in umfas­sen­de­rem und voll­ende­te­rem Den­ken ver­tieft und sie so der All­ge­mein­heit zurück­gibt, und dass der Wert jeder Phi­lo­so­phie zuletzt danach zu bemes­sen ist, ob sie sich in eine leben­di­ge Popu­lar­phi­lo­so­phie umzu­set­zen ver­mag oder nicht, kam ihr nicht zum Bewusstsein.

Alles Tie­fe ist zugleich ein Ein­fa­ches und lässt sich als sol­ches wie­der­ge­ben, wenn nur die Bezie­hung auf die gan­ze Wirk­lich­keit gewahrt ist. Es ist dann ein Abs­trak­tes, das von selbst viel­ge­stal­ti­ges Leben gewinnt, sobald es mit den Tat­sa­chen in Berüh­rung kommt.

Was an suchen­dem Den­ken in der Men­ge vor­han­den war, muss­te also ver­küm­mern, weil es bei unse­rer Phi­lo­so­phie kei­ne Auf­nah­me und kei­ne För­de­rung fand.

Eine Lee­re tat sich vor ihm auf, iiber die es nicht hinauskam.

Gold, in der Ver­gan­gen­heit gemünzt, hat­te die Phi­lo­so­phie in Hau­fen lie­gen. Hypo­the­sen einer zukünf­ti­gen theo­re­ti­schen Welt­an­schau­ung füll­ten als unge­münz­te Bar­ren ihre Gewöl­be. Aber Spei­se, um den geis­ti­gen Hun­ger der Gegen­wart zu stil­len, besass sie nicht. Von ihrem Reich­tum betört, hat­te sie ver­säumt, Boden mit näh­ren­der Frucht anzu­pflan­zen. Dar­um igno­rier­te sie den Hun­ger, der in der Zeit war, und über­liess sie ihrem Schicksal.

Dass das Den­ken es nicht fer­tig­brach­te, eine Welt­an­schau­ung von opti­mis­tisch-ethi­schem Cha­rak­ter auf­zu­stel­len und die Idea­le, die die Kul­tur aus­ma­chen, in einer sol­chen zu begrün­den, war nicht Schuld der Phi­lo­so­phie, son­dern eine Tat­sa­che, die sich in der Ent­wick­lung des Den­kens ein­stell­te. Aber schul­dig an unse­rer Welt wur­de die Phi­lo­so­phie dadurch, daB sie sich die Tat­sa­che nicht ein­ge­stand und in der Illu­si­on ver­blieb, als ob sie wirk­lich einen Fort­schritt der Kul­tur unterhielte.

Ihrer letz­ten Bestim­mung nach ist die Phi­lo­so­phie Anfüh­re­rin und Wäch­te­rin der all­ge­mei­nen Ver­nunft. Ihre Pflicht wäre es gewe­sen, unse­rer Welt ein­zu­ge­ste­hen, daB die ethi­schen Ver­nunft­idea­le nicht mehr wie frü­her in einer Total­welt­an­schau­ung Halt fan­den, son­dern bis auf wei­te­res auf sich selbst gestellt sei­en und sich allein durch ihre inne­re Kraft in der Welt behaup­ten müss­ten. Sie hät­te uns zei­gen müs­sen, daB wir um die Idea­le, auf denen unse­re Kul­tur beruht, zu kämp­fen haben. Sie hät­te ver­su­chen müs­sen, die­se Idea­le an sich, in ihrem inne­ren Wer­te und in ihrer inne­ren Wahr­heit, zu begrün­den und sie so, auch ohne den Zustrom aus einer ent­spre­chen­den Total­welt­an­schau­ung, lebens­fä­hig zu erhal­ten. Mit aller Ener­gie hät­te die Auf­merk­sam­keit der Gebil­de­ten und der Unge­bil­de­ten auf das Pro­blem der Kul­tur­idea­le gelenkt wer­den müssen.

Aber die Phi­lo­so­phie phi­lo­so­phier­te über alles, nur nicht über Kul­tur, Sie arbei­te­te unent­wegt an der Auf­stel­lung einer theo­re­ti­schen Total­welt­an­schau­ung wei­ter, als ob sie damit alles wie­der­her­stel­len könn­te, und über­leg­te nicht, daB die­se Welt­an­schau­ung, selbst wenn sie fer­tig wür­de, weil nur aus Geschich­te und Natur­wis­sen­schaft erbaut und dem­entspre­chend unop­ti­mis­tisch und unethisch immer “kraft­lo­se Welt­an­schau­ung‘‘ blei­ben wür­de und nie die zur Begrün­dung und Auf­recht­erhal­tung von Kul­tur­idea­len not­wen­di­gen Ener­gien her­vor­brin­gen könnte.

So wenig phi­lo­so­phier­te die Phi­lo­so­phie über Kul­tur, dass sie nicht ein­mal merk­te, wie sie sel­ber, und die Zeit mit ihr, immer mehr kul­tur­los wur­de. In der Stun­de der Gefahr schlief der Wäch­ter, der uns wach erhal­ten soll­te. So kam es, dass wir nicht um unse­re Kul­tur rangen.

Hat die Phi­lo­so­phie ihre Kri­se heu­te über­wun­den? Der birsfaelder.li-Schreiberling ist zur Beant­wor­tung die­ser Fra­ge zu wenig kompetent.

Am nächs­ten Frei­tag keh­ren wir wie­der zurück zu Erich Fromm und sein Buch “Haben oder Sein”.

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