Einen Gesinnungsgenossen in seiner Gesellschaftsanalyse fand Erich Fromm in Albert Schweitzer, aus dessen Buch “Verfall und Wiederaufbau der Kultur” er ausführlich zitiert. Als engagierter Arzt in Afrika (Stichwort: Lambarene), als grosser Theologe, weltberühmter Organist, profunder Bach-Kenner und Nobelpreisträger war er noch in der Jugendzeit des birsfaelder.li-Schreiberlings in der Bevölkerung populär gewesen. Heute ist er in der Öffentlichkeit weitgehend vergessen. Zu Unrecht.
Schon kurz nach dem ersten Weltkrieg kritisierte Schweitzer die Entwicklung der westlichen Gesellschaft scharf. Wie scharf, soll die Einleitung zu seinem 1923 erschienenen oben erwähnten Buch deutlich machen:
Wir stehen im Zeichen des Niedergangs der Kultur. Der Krieg (gemeint: der 1. Weltkrieg) hat diese Situation nicht geschaffen. Er selber ist nur eine Erscheinung davon. Was geistig gegeben war, hat sich in Tatsachen umgesetzt, die nun ihrerseits wieder in jeder Hinsicht verschlechternd auf das Geistige zurückwirken, Die Wechselwirkung zwischen dem Materiellen und dem Geistigen hat einen unheilvollen Charakter angenommen. Unterhalb gewaltiger Katarakte treiben wir in einer Strömung mit unheimlichen Strudeln dahin. Nur mit der ungeheuersten Anstrengung werden wir, wenn überhaupt noch Hoffnung vorhanden ist, das Fahrzeug unseres Geschickes aus dem gefährlichen Nebenarm, in den wir es abtreiben liessen, in den Hauptstrom zurückbringen.
Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war. An der Jahrhundertwende erschienen, unter den mannigfachsten Titeln, eine Reihe von Werken über unsere Kultur. Als gehorchten sie einer geheimen Parole, gingen sie nicht darauf ein, den Stand unseres Geisteslebens festzustellen, sondern interessierten sich ausschliesslich dafür, wie es geschichtlich geworden sei. Auf einer Reliefkarte der Kultur zeichnete man uns beobachtete und erfundene Wege ein, die in Berg und Tal des geschichtlichen Geländes aus der Renaissance zum zwanzigsten Jahrhundert führten. Der historische Sinn der Verfasser feierte Triumphe. Die von ihnen belehrte Menge empfand Befriedigung, ihre Kultur als das organische Produkt so vieler, durch Jahrhunderte hindurch wirkender geistiger und sozialer Kräfte begriffen zu haben. Niemand aber nahm das Inventar unseres Geisteslebens auf. Niemand prüfte es auf Adel der Gesinnung und auf Energie zum wahren Fortschritt.
So überschritten wir die Schwelle des Jahrhunderts mit unerschütterten Einbildungen über uns selbst. Was in jener Zeit über unsere Kultur geschrieben wurde, bestärkte uns in dem unbefangenen Glauben an ihren Wert. Wer Bedenken äusserte, wurde erstaunt angesehen. Manche, die auf dem Wege zum Irrewerden waren, hielten inne und lenkten wieder auf die grosse Strasse zuriick, weil sie vor dem abseits führenden Pfade Angst hatten. Andere wandelten ihn, aber schweigend. Die Einsicht, die an ihnen arbeitete, weihte sie der Vereinsamung.
Nun ist für alle offenbar, daB die Selbstvernichtung der Kultur im Gange ist. Auch was von ihr noch steht, ist nicht mehr sicher. Es hielt noch aufrecht, weil es nicht dem zerstörenden Drucke ausgesetzt war, dem das andere zum Opfer fiel. Aber es ist ebenfalls auf Geröll gebaut. Der nächste Bergrutsch kann es mitnehmen.
Welches aber war der Vorgang bei dem Kraftloswerden der Kulturenergien?
Die Aufklärungszeit und der Rationalismus hatten ethische Vernunftideale über die Entwicklung des Einzelnen zum wahren Menschentum, über seine Stellung in der Gesellschaft, über deren materielle und geistige Aufgaben, über das Verhalten der Völker zueinander und ihr Aufgehen in einer durch die höchsten, geistigen Ziele geeinten Menschheit aufgestellt. Diese ethischen Vernunftideale hatten angefangen, sich in der Philosophie und in der öffentlichen Meinung mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und die Verhältnisse umzugestalten. Im Laufe von drei oder vier Generationen waren Fortschritte sowohl an Kulturgesinnung wie an Kulturzuständen in einem Masse verwirklicht worden, da die Zeit der Kultur definitiv angebrochen und in unaufhaltbarem Weitergehen begriffen erschien.
Aber um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fing diese Auseinandersetzung ethischer Vernunftideale mit der Wirklichkeit an abzunehmen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte kam sie mehr und mehr zum Stillstand. Kampflos und lautlos vollzog sich die Abdankung der Kultur. Ihre Gedanken blieben hinter der Zeit zurück, als wären sie zu erschöpft, mit ihr Schritt zu halten.
Wie ging dies zu?
Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.
Soweit Albert Schweitzer. Es ist interessant zu sehen, dass er sich mit diesem Urteil, die Philosophie sei ihrer Aufgabe ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr gerecht geworden, mit dem Schweizer Philosophen, Arzt, Pädagogen und “Vater” der Bundesverfassung von 1848 Ignaz P.V. Troxler trifft, der sich in seinen Vorlesungen an der Universität Bern ebenfalls höchst kritisch mit der Entwicklung der zeitgenössischen Philosophie auseinandersetzte.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz / Christentum und Gnosis / Helvetia — quo vadis? / Aldous Huxley / Dle WW und die Katholische Kirche / Trump Dämmerung