Montagnachmittag. Der birsfaelder.li-Schreiberling wandert wieder mal auf seiner Lieblingsroute dem Rhein entlang zur Uni-Bibliothek. Auf den wegen des tiefen Rheinpegels neu entstandenen Sandbänken lässt man sich von der Sonne verwöhnen. Ferienstimmung — nur ab und zu unterbrochen vom Dröhnen tieffliegender Helikopter, die über der Stadt kreisen.
Später beim Spalentor Warten auf den 3er. Doch der will und will nicht kommen. Also zu Fuss Richtung Barfi. Die Anzeigentafel an der nächsten Haltestelle ist tot. Interessant! Am Barfi dann des Rätsels Lösung: Der gesamte Tramverkehr in der Innerstadt ist lahmgelegt. Sicherheitsmassnahme wegen des 125. Zionistenkongresses, der zurzeit in Basel tagt. Das Stadtcasino ist weiträumig abgesperrt: Der israelische Staatspräsident Isaac Herzog ist auf Besuch!
Man erinnert sich: Vor 125 Jahren wurde in Basel die Idee eines jüdischen Staates geboren. Theodor Herzl hatte damals Juden aus aller Welt zum ersten Zionistenkongress im Stadtcasino eingeladen.
1948 ist seine Idee Wirklichkeit geworden. Israel wurde nach dem Holocaust zum neuen Hoffnungsschimmer für ein zutiefst traumatisiertes Judentum. Die Begeisterung für die junge Nation, die heldenhaft für ihr Überleben kämpfte, war in der Schweiz riesig. Auch der birsfaelder.li-Schreiberling reiste 1966 zusammen mit Freunden in den Nahen Osten und lernte nach einer ausgedehnten Tour in Syrien, Libanon und Jordanien für ein paar Wochen das Leben in einem Kibbuz kennen. Mit seiner Kibbuz-Schlummermutter blieb er noch bis zu ihrem Tod vor einem Jahr in Kontakt.
Dann kam ein Jahr später der Sechstagekrieg. Es kam die provisorische Besetzung Ost-Jerusalems, der Westbank und des Gazastreifens. Nach dem Yom Kippur-Krieg wandelte sich das Provisorium in eine definitive Annexion. Die Folgen davon und die Konflikte, die dieser Schritt heraufbeschwor, sind bekannt. In der Schweiz begann das strahlende Bild Israels schrittweise abzubröckeln.
Inzwischen werfen die beiden grössten internationalen Menschenrechtsorganisationen, Human Rights Watch und Amnesty International, Israel vor, es habe über die Palästinenser ein Apartheid-System errichtet. Massiver Protest seitens Israels, das den beiden Organisationen Antisemitismus vorwirft. Wie tief der Antisemitismus mit der Geschichte Europas verwoben ist, hat der österreichische Historiker Friedrich Heer in “Gottes erste Liebe” magistral geschildert. Juden in der Schweiz erhielten erst 1866 die volle Niederlassungsfreiheit!
Heute steht eine wichtige Frage im Raum: Ist Kritik am Staate Israel per se antisemitisch oder nicht? Der birsfaelder.li-Schreiberling hat sich einmal prompt das Antisemitismus-Etikett eingehandelt, als er es wagte, den Frieden zwischen Israel und den Arabischen Emiraten etwas zu hinterfragen. Wie kontrovers und emotional heute die Politik Israels und die Lage im Nahen Osten diskutiert werden, zeigt schon allein das millionenschwere Sicherheitsdispositiv für den Kongress, — ein Armutszeugnis für die aktuelle Diskussionskultur.
Eine ausgezeichnete und höchst lesenswerte Antwort auf obige Frage findet sich in einem Interview, das die REPUBLIK kürzlich mit der Historikerin Christina Späti führte, die zu Antizionismus, Antisemitismus und Rassismus forscht.
Doch zurück zu unserem 3er! Am Aeschenplatz ist er zwar schon lange angekündigt, aber auch nach einer Viertelstunde immer noch unsichtbar. Also macht sich der Schreiberling auf Schusters Rappen Richtung Birsfelden auf. Wegen der drückenden Hitze wagt er an der nächsten Halteststelle doch wieder einen Blick auf die Anzeigetafel: Hurra, der 3er kommt tatsächlich in zwei Minuten!!
Das nächste Tram war dann aber ein 16er, und dann gleich nochmals ein 16er, und dann schon wieder ein 16er, — und schliesslich — keine Fata Morgana! — der lang ersehnte, halt etwas überfüllte 3er. Was soll’s: Nach einer langen Odyssee quer durch die Stadt kam der Schreiberling endlich wohlbehalten in Birsfelden an und wurde sich plötzlich des grossen Privilegs bewusst, Tag für Tag alle sieben Minuten mit dem 3er in die Stadt und zurück fahren zu können …
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