Ein­mal mehr gibt eine Predigt von Wal­ter Bochsler über die Mit­glieder der katholis­chen Kirchge­meinde hin­aus unter den Einwohner*innen zu reden. Wir wur­den mehrfach gefragt, ob wir seine Predigt vom 29.10. veröf­fentlichen  kön­nten.
Wir danken Wal­ter Bochsler für die Erlaub­nis zur Pub­lika­tion.          
Ueli Kauf­mann

Gottes­di­enst zu den
Miss­brauchs­fällen in der Kirche

Liebe Mit­glaubende, vielle­icht auch Mitzweifel­nde oder Mitverzweifelte!

Unsere Kirche hat Risse bekom­men. Die hat sie zwar schon lange, aber jet­zt sind sie gewaltig gewor­den, sie wird in den Grund­festen erschüt­tert. Das macht gewis­sen Leuten Angst, diesen Zer­fall zu sehen. Ich gehöre nicht zu ihnen. Für mich kom­men diese Risse viel zu spät, die Risse in der Amts- und Machtkirche, denn ich bin der Mei­n­ung, dass diese Kirche auf den Ursprün­gen des Evan­geli­ums gar nicht hätte entste­hen dür­fen, denn sie ist seit den Zeit­en Kon­stan­tins immer die gle­iche impe­ri­al­isierte Kirche geblieben, auch wenn ihr Ein­fluss auf die Poli­tik und Gesellschaft sehr stark geschwun­den ist.
Mit der Kirche meine ich nicht die Gemein­den, wo Men­schen zum Gebet, zur Betra­ch­tung, zur gegen­seit­i­gen Hil­fe, zu Bei­s­tand und Respekt vor­einan­der und zum Teilen
des Brotes und des Leben­snotwendi­gen, zusam­menkom­men. Doch jet­zt dro­ht die immer noch beste­hende hier­ar­chisch struk­turi­erte Machtkirche auch die Gemein­den auszupow­ern und kaputt zu machen, indem sie die Men­schen vertreibt.

Ich möchte Sie zu ein­er Besin­nung ein­laden:
Wer bes­timmt mein Christ­sein, Christin­sein? Die Amt­skirche oder das Evan­geli­um, die Botschaft Jesu vom Reich Gottes und sein­er Gerechtigkeit?
Lasse ich mich gän­geln von Vorschriften, Rechtssätzen und ein­er Moral, die keinen wirk­lichen Anhalt­spunkt in der bib­lis­chen Botschaft haben?
Bin ich bere­it mit dem Über­holten, im Wider­spruch zum Evan­geli­um Ste­hen­den zu brechen und mich von ihm zu lösen? Bin ich auch zu Wider­stand bere­it?

Tages­ge­bet:

«Ich bin dein Gott, der Gott des Lebens, der dich aus der Sklaverei, der Unter­drück­ung Ägyptens her­aus­ge­führt hat. Du sollst keine andern Got­theit­en neben mir haben». Du sollst dich gegen jedes Gebot, jedes Recht, jede Moral zur Wehr set­zen, die das Leben der Men­schen in Fülle behin­dern und verun­möglichen, gegen jede Kat­e­gorie, jede Struk­tur, die unfrei machen und abhängig von Macht­sys­te­men, gegen jede Aus­beu­tung und Drangsalierung sollst du dich erheben. Denn sie zeigen uns nicht den Gott des Lebens, son­dern die Götzen des Todes. Sie sind Regeln und Geset­ze, auf denen der Fluch liegt.
Ste­he uns bei, du Gott des Lebens, dass wir uns zusam­men­schliessen gegen die Mächte des Todes, dass wir uns verbinden für eine gerechte, die Würde aller Men­schen respek­tierende Gemein­schaft und Gesellschaft, damit so dein Reich in unser­er Welt Wirk­lichkeit wer­den kann. Amen!

Lesung aus dem Brief des Paulus an die Galater 3.25 ‑29

Da das Ver­trauen des Mes­sias Jesus in euch ist, sind wir nicht mehr der Macht und Herrschaft unter­wor­fen. Ihr alle seid näm­lich Söhne und Töchter Gottes, im Mes­sias Jesus durch sein unbezähm­bares Ver­trauen auf das Gelin­gen des Reich­es Gottes und sein­er Gerechtigkeit. Denn alle, die in den Mes­sias Jesus hineinge­tauft seid, habt den Mes­sias ange­zo­gen wie ein Kleid. Das ist dann nicht mehr jüdisch und griechisch, wir und die andern, nicht mehr ver­sklavt und befre­it, nicht mehr Herrsch­er und Beherrschte, nicht mehr männlich und weib­lich, denn ihr seid alle einzig-einig im Mes­sias Jesus. Wenn ihr aber dem Mes­sias ange­hört, dann seid ihr auch erb­brechtigt auf Grund von Gottes Ver­heis­sung.

Wir denken an die Frauen und Män­ner, Jugendlichen und Kinder, die Opfer von Miss­brauch und Über­grif­f­en gewor­den sind und so trau­ma­tisiert sind: dass sie best­mögliche Hil­fe in der Ver­ar­beitung ihres Lei­dens erhal­ten und dass ihnen wirk­liche Gerechtigkeit wider­fährt.
Stille

Wir denken an alle, die zur Aufk­lärung des Miss­brauchs­fälle bes­timmt sind, dass sie mit Stand­haftigkeit, Akri­bie und Genauigkeit die Fälle aufar­beit­en und sich nicht durch Ver­tuschungsver­suche abschreck­en lassen.

Stille

Wir denken auch an die Täterin­nen und Täter, dass auch sie die best­mögliche Hil­fe erhal­ten, und dass es so gelin­gen möge, ihr verp­fuscht­es Ldben einiger­massen auf die Rei­he zu kriegen.

Stille

Schluss­be­tra­ch­tung: Gott des Lebens!

Vor dir gibt es kein Oben und Unten, kein Anse­hen der Per­son. Für dich sind alle Men­schen zwar nicht gle­ich, aber gle­ich­w­er­tig. Eine Abw­er­tung auf Grund von Weltan­schau­ung, Reli­gion, Haut­farbe, Volk­szuge­hörigkeit gibt es für dich nicht. Du willst für alle ein men­schen­gerecht­es, men­schen­würdi­ges Leben in ein­er intak­ten Schöp­fung, die solch­es Leben ermöglicht. Lass uns als deine Gemein­schaft fol­gen dem Beispiel deines Sohnes und so wie er ein­treten für dein Reich und seine Gerechtigkeit für diese Erde. Darum ehren wir dich für heute und jeden Tag. Amen!

Was im „Vater unser“ nicht geschrieben ste­ht

Liebe Mit­men­schen!
Vor einiger Zeit habe ich in dieser Stelle eine Predigt gehal­ten über das Vater Unser in der Fas­sung der Evan­gelien. Ich habe mich leit­en lassen von den Erken­nt­nis­sen des franzö­sis­chen Sprach­wis­senschaftlers Roland Barthes, der uns aufzeigt, dass man bei einem Text nicht nur das lesen soll, was geschrieben ste­ht, son­dern auch das mitbe­denken, dass nicht geschrieben ste­ht, auch beim Vater Unser. Was ste­ht da nicht geschrieben?

In diesem, auf Jesus zurück­ge­hen­den Gebet gibt es:
keinen Kult und kein Kult­per­son­al, also keine Zweik­las­sen­ge­sellschaft und kein sakra­men­tales Amt.
Kein Rechtssys­tem, also kein Kirchen­recht und keine eigene Gerichts­barkeit,
Keine Glaubenssätze im Sinne eines Für-wahr-Hal­tens von irgen­det­was oder irgend­je­man­dem.
Keine Moral, son­dern nur eine die bei­den Tes­ta­mente umfassende Ethik, die auf der grund­sät­zlichen Gle­ich­w­er­tigkeit der Men­schen beruht.
Keine Abw­er­tung der Frauen.
Kein Opfer im Sinn von sac­ri­fi­ci­um und keinen Opfer­kult.
Und was jet­zt deut­lich her­vor­tritt, keine men­schen­ver­ach­t­ende und per­fide Unter­drück­ung der men­schlichen Sex­u­al­ität.
Das alles find­en wir im Vater Unser nicht. Mein ver­stor­ben­er Fre­und und Lehrer Franz Hinke­lam­mert hat es auf den Begriff gebracht, wenn er schreibt: «Das Chris­ten­tum ist die einzige Reli­gion, die auf der Nega­tion, der Vernei­n­ung ihrer eige­nen Ursprünge beruht. Es han­delt sich dabei um eine Inver­sion, eine Verkehrung der Botschaft Jesu in ihr Gegen­teil.» Diese Verkehrung hat die Machtkirche her­vorge­bracht und hält sie bis heute am Leben. Und diese Machtkirche hat das sicht­bar gewor­dene Desaster zu ver­ant­worten. Doch lesen wir im Evan­geli­um von Markus (10, 42–43) Fol­gen­des:

Rangstre­it unter den Jüngern

Als die Begleit­er Jesu strit­ten über die Plätze im Reiche Gottes, da rief Jesus sie zu sich uns sagte: Wie ihr doch wisst, unter­jochen die Herrsch­er ihre Völk­er, herrschen mit Gewalt über sie und sie miss­brauchen ihre Macht und Gewalt. Bei euch aber soll das nicht so sein. Im Gegen­teil, wer von euch hoch ange­se­hen und mächtig sein will, soll wie ein Sklave oder eine Sklavin den Men­schen zu Dien­sten ste­hen. Denn der Men­schen­sohn ist nicht gekom­men, um sich bedi­enen zu lassen, son­dern um zu dienen.

Liebe Mit­men­schen! Der Zöli­bat ist nur ein Bestandteil des gewalti­gen Desasters, näm­lich der bis in die frühe Kirche zurück­re­ichende und sich stetig steigernde Unter­drück­ung der men­schlichen Sex­u­al­ität. Schon in der bis in die nacha­pos­tolis­che Zeit zurück­ge­hende Zeit wurde die Frau sys­tem­a­tisch abgew­ertet bis hin zur Aus­sage eines Kirchen­vaters, die Frau sei das Ein­fall­stor des Teufels. Die Ehelosigkeit und Keuschheit wurde propagiert, das entste­hende Mönch­tum der Ein­siedler trug dazu bei, dass die Sex­u­al­ität diskri­m­iniert wurde. Der Geschlecht­sakt war bald nur noch erlaubt zur Zeu­gung von Nachkom­men­schaft, die sex­uelle Lust ver­teufelt. Viele woll­ten eigentlich die Kirche in ein gigan­tis­ches Kloster umwan­deln. Die Unter­drück­ung der Sex­u­al­ität wurde zu ein­er Grund­kat­e­gorie der Kirche zur Durch­set­zung ihrer Macht.

Der franzö­sis­che Philosoph Michel Fou­cault,der sein halbes Leben dazu ver­wen­det hat den Auf­bau und Fortbe­stand von Macht­sys­te­men zu analysieren, zeigt deut­lich und klar, dass kein Macht­sys­tem der­massen Gewalt über die Men­schen gewin­nt und diese bis in die let­zte Fas­er ihrer Exis­tenz beset­zt hält und beherrscht wie jenes Macht­sys­tem, dem es gelingt, die Sex­u­al­ität der Men­schen zu beherrschen. Und da kein Macht­sys­tem ohne Ide­olo­gie auskommt, hat die Kirche diese geschaf­fen mit ihrer Sex­ual­moral.

Der Befreiungsphilosoph Enrique Dus­sel zeigt, dass jede Moral let­ztlich das Instru­ment ist der Herrschen­den, um die Unter­ge­ord­neten zu drangsalieren und gefügig zu hal­ten. Und so hat die Kirche die Unter­drück­ung der Sex­u­al­ität mit der Angst gekop­pelt, der Angst vor der Hölle, wie der His­torik­er Jean Delumeau ein­drück­lich gezeigt hat.
Die Kirche hat Waf­fen geseg­net, Päp­ste haben als Heeres­führer Kriege geführt, der Kolo­nial­is­mus wurde vielfach mit­be­grün­det und am Leben erhal­ten. Die berechtigten Ansprüche der Bauern und Arbeit­er wur­den ignori­ert oder aufs bru­tal­ste niedergeschla­gen. Kreuz­züge wur­den aus­gerufen und die Inqui­si­tion durchge­set­zt. Nichts davon wurde umfassend in Frage gestellt oder ver­wor­fen. Bei der Sex­u­al­ität war das anders, jedes Verge­hen wurde mit dem hin­ter­sten Winkel der Hölle bedro­ht. Die Men­schen dadurch seel­isch verkrüp­pelt und vielfach beziehung­sun­fähig gemacht. Die Ref­or­ma­tion hat daran nichts entschei­dend geän­dert, die Bedro­hung durch die Hölle blieb beste­hen und die Unfehlbarkeit­serk­lärung 187o hat das Ganze innerkirch­lich noch ver­schärft. Bis heute entschei­den alte Män­ner über das sex­uelle Ver­hal­ten der Men­schen, Män­ner, die davon nichts ver­ste­hen oder nichts ver­ste­hen dürften. Ich denke, dass auch unter uns Men­schen sind, die oder min­destens noch ihre Eltern, unter der­lei Vorschriften unglaublich gelit­ten haben.

In der Sendung Club im Fernse­hen sagte Abt Peter von Sury von Mari­astein: «Diese Kirche ist nicht reformier­bar. Sie kann nur von unten neu aufge­baut wer­den». Das ist auch meine Mei­n­ung, Damit ein Neuauf­bau möglich wird, muss das Macht­sys­tem der Kirche ganz zer­stört wer­den. Kein Stein darf auf dem andern bleiben. Gesellschaftliche Verän­derun­gen kom­men nie von oben, wenn sie Bestand haben sollen, son­dern auss­chliesslich von unten. Von oben kommt nur Druck und Macht. Kein Weg führt daran vor­bei, dass nur die Basis eine Verän­derung bewirken kann. Und die Basis sind die Men­schen in unsern Gemein­den.
Für diese Basis gibt es nur einen kat­e­go­ri­alen Rah­men und eine inhaltliche Fülle: das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit. In den Evan­gelien 99 mal erwäh­nt, bei Paulus die Gottes­gerechtigkeit und bei Johannes das Leben in Fülle.

Und diese Basis, die Men­schen in den Gemein­den, müssen zusam­men­ste­hen und klar zum Aus­druck brin­gen: da machen wir nicht mehr mit, defin­i­tiv und endgültig nicht mehr. Der Franzö­sis­chlehrer meines jüng­sten Brud­ers, Jean Albert Fontana, ein Fri­bourg­er, sagte es so: Dihr cheut mache, was der weit, aber eis säge nich euch: falsch spekuliere, fer­tig! Es muss fer­tig sein mit diesen Druck­ver­suchen. Die Hier­ar­chen reden und reden, machen Ver­samm­lun­gen und Zusam­menkün­fte und erzählen seit Jahrzehn­ten, nein Jahrhun­derten, den immer gle­ichen the­ol­o­gis­che Schrott, ohne sich die Frage zu stellen, ob es da eine wirk­liche Verbindung zur bib­lis­chen Botschaft gibt. Bis zum heuti­gen Tag geht es um die Machter­hal­tung eines längst über­lebten monar­chis­chen Sys­tems. Das dür­fen wir uns nicht länger gefall­en lassen. Unsere Gemein­den müssen zu Sub­jek­ten ihrer eige­nen Geschichte, ihres eige­nen Han­delns wer­den. Und mit viel gutem Willen kann dies auch gelin­gen, es gibt genü­gend Men­schen, die wil­lens sind und in der Lage, die zu bew­erk­stel­li­gen. Aber wir dür­fen uns nicht unterkriegen lassen.

Im Johan­ne­se­van­geli­um sagt Jesus: damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Zu einem Leben in Fülle gehört auch eine erfüllte und erfül­lende Sex­u­al­ität. Wie ein Wüsten­mönch des 2./3. Jahrhun­derts, der 4o Jahre in eine Höh­le lebt, eine erfül­lende Sex­u­al­ität leben soll, erschliesst sich mir nicht, eben­so nicht, wie man solch­es auf Grund der Botschaft Jesu zu einem besseren Christ­sein stil­isieren und die Keuschheit als ide­ales, erstrebenswertes Ziel propagieren kon­nte. Find­en wir doch in der Gen­e­sis den Satz: es ist nicht gut für den Men­schen, allein zu sein. Und beim Predi­ger Kohelet: zwei sind bess­er dran als ein­er allein. Man lese auch im Hohen Lied der Liebe, der schön­sten ero­tis­chen Dich­tung des Alter­tums. Dass man die Sex­ual­moral zu einem Herrschaftsin­stru­ment entwick­elte, das erschliesst sich mir schon. Es ging, wie bei Markus 1o. ver­merkt, um Herrschaft und Unter­jochung. Davon müssen wir uns lösen und befreien. Sex­u­al­ität muss einge­bet­tet sein in einen men­schen­würdi­gen, respek­tvollen und sen­si­blen Umgang von Men­sch zu Men­sch, auf Augen­höhe im Bewusst­sein, dass ich nur bin, wenn der/die andere auch ist. Lösen wir uns von Vorschriften, ein­er Moral, die Leben verun­möglicht und auf denen, wie Paulus sagt, der Fluch des Geset­zes lastet.

Liebe Mit­men­schen! Ich habe immer gesagt, in Birs­felden darf man über alles predi­gen, nur nicht über 1o Minuten. Ich weiss, ich bin heute länger gewor­den und hoffe, dass sie dafür Ver­ständ­nis haben.
Ich wün­sche mir Gemein­den, die bere­it sind, Bal­last abzuw­er­fen und sich engagieren, um die Güte und die Men­schen­fre­undlichkeit unseres Gottes sicht­bar und erfahrbar zu machen- Ein Zusam­men­find­en von Men­schen, die bere­it sind, sich zu vere­inen zum Auf­bau des Reich­es Gottes und ein­er Gerechtigkeit für diese unsere Welt, heute und jet­zt. Mögen Sie dazu Gottes Bei­s­tand und Begleitung erfahren. Amen!

Wal­ter Bochsler
Birs­felden 29.10.2023

Birsfelden von hinten
Die Reichsidee 109

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