Wie bestellt lie­fert Roger Koep­pel in sei­nem neu­es­ten Welt­wo­che-Edi­to­ri­al ein paar anre­gen­de Gedan­ken, wel­che direkt in die The­ma­tik die­ses Arti­kels füh­ren. Unter dem Titel “Chris­ten­tum und Frei­heit” erei­fert sich der Chef­re­dak­tor der Welt­wo­che über die Idee der CVP, das christ­li­che C aus ihrem Namen strei­chen zu wol­len und fährt fort:
Die C‑Diskussion fällt viel­leicht nicht zufäl­lig in eine Zeit, da radi­ka­le Anti­ras­sis­mus-Bewe­gun­gen in den USA Sta­tu­en von Jesus van­da­li­sie­ren und abreis­sen wol­len, weil sie angeb­lich Aus­druck einer weis­sen Über­le­gen­heits­dok­trin sei­en. So jeden­falls äus­sert sich in sei­nen Tweets Shaun King, der Anfüh­rer der links­mi­li­tan­ten Grup­pe Black Lives Mat­ter. Sei­ner Ansicht nach müs­sen die Stand­bil­der «jenes weis­sen Euro­pä­ers, den sie Jesus nen­nen, fal­len, denn sie sind eine Form weis­ser Unter­drü­ckung. Waren es immer.» Die ame­ri­ka­ni­schen Gleich­heits­fun­da­men­ta­lis­ten räu­men jetzt also nicht nur die Grün­der ihres Staa­tes ab. Ihr Hass rich­tet sich auch gegen die hei­ligs­ten Sym­bo­le der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on.
(En pas­sant: Inner­halb 48 Stun­den bekam King 500 Todesdrohungen).

Nun, zuge­ge­ben, ich fin­de es auch kei­ne gute Idee, in den USA Sta­tu­en von Jesus zu van­da­li­sie­ren und abzu­reis­sen. Doch man soll­te bei einem Urteil immer die his­to­ri­sche Dimen­si­on im Auge behal­ten: Der Ku-Kux-Klan (“Mis­sis­sip­pi Bur­ning!”) gab sich betont christ­lich und deren Füh­rer san­gen jeden Sonn­tag andäch­tig die Hym­nen zu Ehren Jesu, bevor sie wie­der ein paar Schwar­ze mass­krier­ten. Und die Skla­ven­hal­ter hät­ten empört auf­ge­schrien, wenn man ihr Chris­ten­tum in Fra­ge gestellt hät­te, — um nur zwei klei­ne Bei­spie­le zu nennen.

Viel­sa­gen­der erscheint mir die Tat­sa­che, dass hier Sta­tu­en zum Ver­schwin­den gebracht wer­den sol­len. Für Koep­pel sind die Jesus-Sta­tu­en “Insi­gni­en des Chris­ten­tums” und “hei­ligs­te Sym­bo­le der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on”.

Wirk­lich!? Sind sie nicht eher Sym­bo­le dafür, dass man einen der revo­lu­tio­närs­ten spi­ri­tu­el­len Kämp­fer, der je auf Erden wan­del­te,  neu­tra­li­siert hat, indem man ihn in Dog­men ein­pack­te, ihn in den Kir­chen hun­dert­tau­send­fach defi­ni­tiv ans Kreuz nagel­te, als weit über uns gewöhn­li­chen Men­schen ste­hen­den “ein­zi­gen Got­tes­sohn” dekla­rier­te, zwi­schen ihn und uns eine gewal­ti­ge Kir­chen­hier­achie schob, und ihn — eben — ab und zu irgend­wo als stum­me Sta­tue auf­stell­te, die gefäl­ligst stumm zu blei­ben hatte?

Nota bene: Kru­zi­fi­xe und Sta­tu­en waren in den ers­ten drei früh­christ­li­chen Jahr­hun­der­ten unbe­kannt, weil noch etwas von der leben­di­gen Gegen­wart des auf­er­stan­de­nen spi­ri­tu­el­len Revo­lu­tio­närs zu spü­ren war. Sie ver­brei­te­ten sich in dem Moment, wo die­se leben­di­ge Bewe­gung durch die Ein­ver­lei­bung als offi­zi­el­le Staats­re­li­gi­on in das römi­sche Macht­ge­fü­ge durch Kai­ser Kon­stan­tin in ein jahr­hun­der­te­lan­ges lang­sa­mes Siech­tum über­ging, nur ab und zu auf­ge­hal­ten durch Ein­zel­per­sön­lich­kei­ten, die man gemein­hin Mys­ti­ker nennt, oder durch “häre­ti­sche” Grup­pen, denen aller­dings jeweils vom “offi­zi­el­len” Chris­ten­tum sofort der Gar­aus gemacht wur­de. Und immer brann­ten die Schei­ter­hau­fen und gescha­hen die Fol­te­run­gen im Zei­chen des Kru­zi­fi­xes. (Wal­ter Nigg hat die­sen Mär­ty­rern übri­gens in sei­nem “Buch der Ket­zer” ein wür­di­ges Denk­mal gesetzt). — Die Aus­rot­tung von Mil­lio­nen Indi­ge­ner in der Neu­en Welt durch die Spa­ni­er und spä­ter die weis­sen Nord­ame­ri­ka­ner gescha­hen im Zei­chen des Kru­zi­fi­xes und der Bibel, die Trump kürz­lich gegen “Black Lives Mat­ter” zur Schau stell­te. Wer sich  etwas genau­er ori­en­tie­ren möch­te, schaut am bes­ten mal in das zehn­bän­di­ge (!) Werk von Karl-Heinz Desch­ner mit dem Titel “Kri­mi­nal­ge­schich­te des Chris­ten­tums”, in dem bis heu­te noch kei­ne ein­zi­ge Fest­stel­lung wider­legt wurde.

Sebas­ti­an Cas­tel­lio**, der vor dem “gros­sen Refor­ma­tor” Jean Cal­vin aus Genf nach Basel flie­hen muss­te, weil er unter ande­rem des­sen Befehl zur Ver­bren­nung von Micha­el Ser­ve­tus anpran­ger­te, schrieb damals verzweifelt:
“O Chris­tus, Schöp­fer und König der Welt, siehst Du die­se Din­ge? Bist Du wirk­lich ein ganz ande­rer gewor­den, als Du es warst, so grau­sam und feind­se­lig wider Dich selbst? … Ist es wahr, dass Du jetzt so ver­wan­delt bist? Ich fle­he Dich an, im hei­ligs­ten Namen Dei­nes Vaters: Gebie­test Du denn wirk­lich, dass die­je­ni­gen, wel­che nicht alle Dei­ne Anord­nun­gen und Gebo­te genau so, wie Dei­ne Leh­rer es for­dern, befol­gen, im Was­ser ertränkt wer­den, mit Zan­gen zer­ris­sen bis zu den Ein­ge­wei­den, mit Salz bestäubt, von Schwer­tern zer­fetzt, an klei­nen Feu­ern gerös­tet und mit aller Art von Mar­tern zu Tode gequält? Bil­ligst du wirk­lich, o Chris­tus, die­se Din­ge? Sind es wirk­lich Dei­ne Die­ner, die sol­che Schläch­te­rei­en ver­an­stal­ten, wel­che der­art die Leu­te schin­den und zer­stü­ckeln? Bist Du wirk­lich, wenn man Dei­nen Namen zum Zeu­gen auf­ruft , bei sol­chen grau­sa­men Metz­ge­rei­en, als ob du Hun­ger hät­test nach mensch­li­chem Fleisch? Wenn Du, Chris­tus, die­se Din­ge wirk­lich gebie­ten wür­dest, was wäre dann Satan zu tun übrig­ge­las­sen? O furcht­ba­re Got­tes­läs­te­rung, dass Du die­se Din­ge tätest, die­sel­ben Din­ge wie er! O nie­der­träch­ti­ger Mut der Men­schen, Chris­tus sol­che Din­ge zuzu­schrei­ben, die nur Wil­le und Erfin­dung des Teu­fels sein kön­nen.

Es ist also eine ziem­lich stei­le The­se, wenn Koep­pel apo­dik­tisch fest­hält: “Wer christ­li­che Sym­bo­le angreift, greift nach der abso­lu­ten Herr­schaft”, oder wenn er meint: “Ohne das Chris­ten­tum wäre die moder­ne Idee der per­sön­li­chen Frei­heit nie­mals Wirk­lich­keit gewor­den. Der Libe­ra­lis­mus ist ange­wand­tes Chris­ten­tum.” Hör­ten das die Auf­klä­rer, die gegen die allein­se­lig­ma­chen­den Kir­che für die Men­schen­rech­te kämpf­ten, sie wür­den sich im Gra­be umdrehen …

Zwar hält Koep­pel durch­aus zu Recht fest, wenn er meint: “Alle tota­li­tä­ren Staa­ten des 20. Jahr­hun­derts waren gegen das Chris­ten­tum, weil das Chris­ten­tum, rich­tig ver­stan­den, der natür­li­che Feind tota­ler Herr­schaft ist. Solan­ge es einen Gott gibt, hat die Macht der Men­schen Gren­zen. … Marx hielt dem Chris­ten­tum sei­ne eige­ne kom­mu­nis­ti­sche Ideo­lo­gie ent­ge­gen und pre­dig­te den Leu­ten, sie soll­ten nicht mehr zu Gott auf­schau­en, son­dern zu Marx und sei­nen Kom­mu­nis­ten, neben denen er kei­nen ande­ren Gott mehr dul­de­te.”

Georg Grosz

Dass weder Koech­lin noch der Schrei­ben­de das Heu mit Marx auf der glei­chen Büh­ne haben, ist dem geneig­ten Leser und der geneig­ten Lese­rin im Lau­fe der letz­ten Epi­so­den hof­fent­lich klar gewor­den. Aber der Welt­wo­che-Chef­re­dak­tor hat ein klei­nes Detail über­se­hen: Wenn die “christ­li­che” Bour­geoi­sie im 19. Jahr­hun­dert das Pro­le­ta­ri­at nicht so gna­den­los aus­ge­beu­tet hät­te, son­dern die Prin­zi­pi­en, die Jes­hua ben Joseph, aka Jesus Chris­tus, ver­kün­de­te, in ihrem Leben auch tat­säch­lich ange­wen­det hät­te, wäre ein Karl Marx schlicht über­flüs­sig gewesen …

Bestand der gros­se Feh­ler also dar­in, dass die aus­ge­beu­te­ten Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter für ein bes­se­res Leben zu kämp­fen ver­such­ten, anstatt “zu Gott auf­zu­schau­en”, ihr Schick­sal gott­er­ge­ben zu ertra­gen und am Sonn­tag brav in der Kir­che zu beten und singen!?

Hier kom­men wir zu der alles ent­schei­den­den Fra­ge: Von was für einem Gott und von wel­chem Chris­ten­tum spricht hier Roger Koep­pel eigent­lich? Ich habe den lei­sen Ver­dacht, dass er das Chris­ten­tum meint, für das Donald Trump mit erho­be­ner Bibel gegen “Black Lives mat­ter” demons­trier­te,  unter­stützt von Ste­ve Ban­non, dem selbst­er­nann­ten Kämp­fer für “die christ­li­chen Wer­te des Abendlands”.

Hei­ner Koech­lin stell­te sich die Fra­ge nach Gott und dem Wesen des Chris­ten­tums eben­falls. Bei der Suche nach einer Ant­wort half ihm ein rus­si­scher Reli­gi­ons­phi­lo­soph, Niko­lai Alex­an­d­ro­witsch Ber­d­ja­jew. Ber­d­ja­jew, der als Mar­xist in Russ­land drei Jah­re in der Ver­ban­nung gelebt hat­te, wan­del­te sich im Lau­fe sei­nes Lebens zu einem Chris­ten. Aller­dings ein ziem­lich unkon­ven­tio­nel­ler und unbe­que­mer, wenn er dekla­rier­te, der Gott, der die Welt regie­re, Geset­ze erlas­se, bestra­fe und Gna­de übe, sei eine Erfin­dung des Men­schen, — und zwar des poli­ti­schen Men­schen, weil die­ser Gott nach dem Mus­ter der mensch­li­chen poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen geschaf­fen wur­de. Das aber sei die denk­bar radi­kals­te Ver­keh­rung der Wahr­heit, denn die poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen sei­en gera­de das, in dem sich der Mensch am wei­tes­ten von Gott entferne.

Wenn  sich hier bei dem einen oder andern inner­lich etwas Wider­spruch mani­fes­tie­ren soll­te, wür­de mich das nicht wei­ter wun­dern. Wir wer­den des­halb in der nächs­ten Fol­ge der Fra­ge nach­ge­hen müs­sen, was Ber­d­ja­jew mit die­ser Aus­sa­ge genau mein­te, — und war­um Koech­lin sei­ne Gedan­ken­gän­ge auch aus anar­chis­ti­scher Sicht höchst wert­voll fand.

 

** In Basel ist auch der Sitz der Inter­na­tio­na­len Cas­tel­lio-Gesell­schaft, die sich die Auf­ga­be stellt, des­sen Leben und Werk zu erfor­schen.

An ande­ren Seri­en interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hei­ner Koech­lin / Simo­ne Weil / Gus­tav Mey­rink / Nar­ren­ge­schich­ten / Bede Grif­fiths / Graf Cagli­os­tro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­wo­che und Donald Trump / Die Welt­wo­che und der Kli­ma­wan­del / Die Welt­wo­che und der lie­be Gott /Leben­di­ge Birs / Aus mei­ner Foto­kü­che / Die Schweiz in Euro­pa /Die Reichs­idee /Voge­sen Aus mei­ner Bücher­kis­te / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­ba­cher  / A Basic Call to Con­scious­ness / Leon­hard Ragaz /

 

Wir machen Nägel mit Köpfen! (3)
Ein virtueller 1. August in Birsfelden ...

15 Kommentare

Kommentiere

Deine Meinung

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.