“Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt dort wie ein großer, heller, flacher Stein.
Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine rechte Seite fängt an zu verfallen, – wie ein Gesicht, das dem Alter entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert, – dann bemächtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trübe, qualvolle Unruhe.
Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum vermischt sich in meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und Gehörtem, wie Ströme von verschiedener Farbe und Klarheit zusammenfließen. …”
So beginnt Gustav Meyrinks erster und am berühmtesten gebliebener Roman, “Der Golem”. Es ist die Geschichte des Gemmenschneiders Athanasius Pernath, der im jüdischen Ghetto in Prag lebt und in einen Ereignisstrudel hineingezogen wird, in dem sich Wachen und Traum, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, abgrundtiefe Bosheit und edelstes Menschsein, Alltagswirklichkeit und Legende, Diesseits und Jenseits in einem magischen Kaleidoskop durchdringen.
Ein Literaturkritiker schrieb: “Gute Prosa ist rar. Wer in der ungebundenen Rede nicht nur auf eine rührende, spannende, erschütternde, ergreifende, transzendierende Erzählung hofft, sondern auch auf jenen Klang, jenes sich Einbrennende, das das Sprachkunstwerk Literatur überhaupt erst zum Kunstwerk macht, der bewegt sich in dünn besiedelten Gefilden. … Über allen aber thronen zwei Texte …: Georg Büchners „Lenz“-Fragment und Gustav Meyrinks „Der Golem“…
Es ist nicht das vielbeschworene, freilich außergewöhnlich gelungene Prager Kolorit, das diesen Roman prägt, es ist auch nicht der bloße phantastische Schauder, der den Leser jederzeit ergreifen kann. Auch die Vielstimmigkeit, das Labyrinthische seines so einfachen Erzählens ist nicht das Alleinstellungsmerkmal dieses Werks. Nein, den „Golem“ zeichnet aus, dass er die einmalige Kraft besitzt, denjenigen, der ihn aufschlägt, in seine kabbalistisch-magische, lebenszerstörende und lebengebende Sphäre zu verrücken …”
Diesem Urteil mögen sich längst nicht alle anschliessen, aber dass Meyrinks Opus im Segment “fantastische Literatur” einen Ehrenplatz einnimmt, ist unbestritten.
Bevor wir uns etwas in den Roman vertiefen, gilt es, einen Blick auf den Begriff des Golems zu werfen, der seine Wurzeln im Judentum hat. Aus einem Lexikon zum entsprechenden Stichwort: “Form/Humanoid”. Ein von Menschen geschaffenes Wesen, meist ein Anthropoid, das durch die schöpferische Kraft des hebräischen Alphabets belebt wird. Der Glaube, man könne künstliche Menschen erschaffen, war unter den magischen Praktikern der Antike weit verbreitet. Obwohl es eine mögliche Anspielung auf diese Idee in der Heiligen Schrift gibt (Ps. 139:16), findet sich die spezifische Grundlage dafür im Sefer Yetzirah, das lehrt, dass der Mensch ein “kleiner Schöpfer” werden kann, indem er lernt, die okkulte Macht des Alphabets zu manipulieren, wenn es mit göttlichen Namen kombiniert wird. Das liegt daran, dass Gott bei der Erschaffung des Kosmos Worte, das Alphabet und vor allem göttliche Namen verwendet hat.”
Neben anderen Akademikern hat der israelische Historiker und Philosoph Moshe Idel dem Golem eine umfangreiche Untersuchung gewidmet. Das ist angesichts der Tatsache, dass es heute möglich geworden ist, in das Erbgut einzugreifen und so Leben zu manipulieren, nicht weiter erstaunlich …
Am farbigsten hat sich der Golem-Mythos aber in der berühmten Legende vom Prager Rabbi Jehuda ben Bezel’el Löw herauskristallisiert. Der berühmte Rabbi Löw, der mit dem in Prag residierenden Kaiser Rudolf II. in Kontakt stand, soll einen Golem geschaffen haben, um die Prager Juden vor den regelmässig wiederkehrenden christlichen antisemitischen Ausschreitungen im jüdischen Ghetto zu schützen. Miriam Pressler hat die Geschichte in einer anrührenden Erzählung “Golem. Stiller Bruder” auch für Jugendliche eindrücklich erlebbar gemacht.
Leserinnen und Leser, die sich nicht gerne in lange Wikipedia-Artikel vertiefen, finden hier eine kurze und gute Audio-Einführung zum Thema.
Bevor wir uns aber wieder Meyrink zuwenden, ist es unvermeidlich, auf jenen Film hinzuweisen, der als einer der Höhepunkte expressionistischen Stummfilmschaffens gilt und der die Golem-Legende in bis heute faszinierende Bilder umsetzte: Paul Wegener’s “Golem” in der dritten Fassung von 1920, “Der Golem, und wie er in die Welt kam”:
Der Regisseur Paul Wegener liess es sich übrigens nicht nehmen, den Golem selber zu spielen!
Eine kritische Bemerkung zum Film sei noch angefügt:
“Der Klassiker von 1920, ein Meisterwerk des stummen Horrors, zeigt die Bereitschaft, das jüdische Volk in die deutsche Kultur aufzunehmen. Gleichzeitig zeigt der Film einen Mangel an Verständnis für die Kultur, die er zu porträtieren versucht, der manchmal etwas lächerlich ist und manchmal an Beleidigung grenzt. Obwohl Wegeners Absichten gut gewesen sein mögen, schien seine Darstellung jüdischer Rituale und Anbetung mehr als einmal das zu sein, was westliche Kulturen mit schwarzer Magie, Okkultismus und Teufelsanbetung assoziieren.”
“Der Golem” erschien 1913/14 zunächst als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift, 1915 schliesslich in Buchform und entwickelte sich in kürzester Zeit zu einem Bestseller, der bis heute immer wieder neu aufgelegt wird. Es heisst, er sei besonders populär bei den deutschen Soldaten an der Westfront gewesen, weil er ihnen angesichts der unfassbaren Schrecken, der dank moderner Kriegstechnik über sie hereingebrochen war, einen Blick in andere Dimensionen des Lebens ermöglichte.
Doch welche Rolle spielt nun der Golem in Meyrink’s Roman?
Im Gegensatz zur Rabbi Löw-Legende hat er keine Schutzfunktion für das jüdische Ghetto. Hören wir uns doch einfach einmal in einem Auszug aus dem audible-Hörbuch, meisterhaft vorgelesen von David Nathan an, wie Athanasius Pernath dem Golem zum ersten Mal begegnete: ( Ein lizenzfreies Hörbuch gibt es übrigens hier.)
xx
Und wer sich jetzt angeregt fühlt, selber einen Blick in das Buch zu werfen, findet heute eine reiche Auswahl als e‑book oder Taschenbuch. Hier findet sich eine gemeinfreie Gutenberg Ausgabe als PDF.
In der nächsten Episode steigen wir nun definitiv in die Romanhandlung ein, und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 16. Januar!
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