Die Rollenverteilung
Es begab sich aber zu einer Zeit, in der an den Schulen Birsfeldens noch keine Lehrpersonen unterrichteten, sondern Lehrerinnen und Lehrer.
War ausnahmsweise einmal das ganze Schulhaus-Team gemeint, sprach man vom Kollegium, dem Lehrkörper oder von der Lehrerschaft. Eines Tages, zu Beginn der Adventszeit, lag völlig unerwartet ein Problem auf dem Tisch des Lehrer*innenzimmers.
Das Problem: Keine Lehrkraft, keine Schulklasse hatte eine Produktion für die gemeinsame Weihnachtsfeier vorbereitet.
Der vom Abwart geschmückte Christbaum in der Aula, das Singen vom entsprungenen Ros und dem fahrenden Schiff sollte alles sein? Keine herbeieilenden Hirten, lasst uns nun gehen und sehen. Keine jubilierenden Engel und Kinderlein so kommet doch all, keine fröhlich gnadenbringende Nacht?
Was tun?
In jugendlicher Unbedarftheit schlug ein Junglehrer vor, das Kollegium könne doch selbst ein Krippenspiel darbieten, die Kinder hätten ja alle schon genug fürs Fest vorbereitet: Kerzen gezogen, Gutzi gebacken, Kerzenständer und Aschenbecher geknetet, getont, gebrannt, Bleistifthalter aus Klopapierrollen gebastelt, beklebt und bemalt und auf der Blockflöte geübt.
Schweigen im Lehrerzimmer.
Jemand schaltete die Kaffeefiltermaschine an.
Eine Kollegin schälte eine Mandarine.
Der Hauswart knackte berufsbedingt Nüsse.
Kein Smart-Phone dudelte in die plötzliche Stille. Das Gerät war noch unbekannt.
Plötzlich sprachen alle durcheinander. Das Knacken der Nussschalen und das prostatische Tröpfeln der Kaffeefilterkanne gingen unter im Gesang der Himmlischen Heerscharen.
Kurz: Der Vorschlag wurde angenommen und sogleich begann die Diskussion um die Rollenverteilung.
Zur Überraschung aller bewarb ich mich lautstark, sofort und zielstrebig um die Rolle des Neugeborenen; nicht etwa, um die Hauptrolle zu übernehmen, behüte, nein! Sondern, um garantiert keine Sprechrolle zu erhalten. Zudem war die Rolle der Jungfau Maria der jüngsten Kollegin auf den Leib geschrieben und somit schnell vergeben. Der langen Rede kurzer Sinn, mein Bauchumfang und mein Bart sprachen gegen mich. Übrigens, — die Jungfrau Maria auch.
Unter den Kollegen gab es einen ehemaligen Oblt a.D., der meinte, das Neugeborene könne man doch einfach supponieren, das hätte man beim letzten Manöver des FAK2 mit dem BöFei auch so gemacht.
Nachdem die anwesenden Lehrerinnen über den Begriff Supponieren, die Abkürzungen für Oberleutnant, Feld-Armee-Korps-Zwei und „Böser Feind“ vom Fachmann aufgeklärt waren, nahm das Casting seinen Lauf.
Ganz allgemein: Waren doch in der Original-Geschichte, deren Kenntnis hier einmal vorausgesetzt wird, die Protagonisten alle männlich, bis auf die eine, bekannte Ausnahme. In der Weihnachtsgeschichte und im Krippenspiel gab es einen Josef, drei Gastwirte, sechs Hirten, einen Engel und drei Könige, alle männlichen Geschlechts (hier aufgezählt in der Reihenfolge ihres ersten Auftritts).
Im Kollegium allerdings, war das Verhältnis 4:15 zu Gunsten der Lehrerinnen.
Bei den Hirten und den Himmlischen Heerscharen, Ehre sei Gott in der Höhe, konnten wir schummeln.
Heute weiss ich nicht mehr, wie wir dieses Problem gelöst hatten. Aber wir lösten es. Die Aufführung fand statt, Halleluja, wie geplant und dem Publikum zum Wohlgefallen.
Die Jungfrau Maria unterrichtet noch heute im Sternenfeldschulhaus. Kürzlich habe ich sie im Migros angetroffen.
Und ich, ich hatte es auch geschafft: Keine Sprechrolle.
Richtig: Ich war der Esel.
Ueli Kaufmann, Birsfelden, 2022
© Birsfelder Händedruck (darf geteilt werden)
Titelbild: Max Rüedi, Ochs und Esel, Glasbild, röm.kath. Pfarrkirche, Zürich-Wollishofen
Monika Zech
Dez 24, 2022
Eine herrliche Geschichte! Danke Ueli!
Bernard Wirz
Dez 24, 2022
Ja, sehr gut geschrieben. Gratuliere!
Da kann sich mancher Kolumnist oder Kolumnistin inspirieren lassen. Bitte mehr davon.
Hans Kästli
Dez 24, 2022
Eine gute Weihnachtsgeschichte -
spannend und und mit Genuss zu
lesen. Danke Ueli
Hans-Jörg Beutter
Dez 25, 2022
… gewürzt mit dem umami der schreiberei – selbstironie
.
ein genuss!