Seinen 2016 veröffentlichten Artikel “Gewinnt die Reichsidee an Aktualität” beginnt Dr. Hans-Georg Meier-Stein mit der Kapitelüberschrift “Ein Abgesang”, — und zwar auf die EU:
Seit wir es in der EU mit einer massiven Krise zu tun haben, die Erwartungen von einem „Vereinten Europa“ und die Realität weit auseinanderklaffen, ist das Gefühl, vor einer Zeitenwende zu stehen, wieder allgemein geworden. Nicht wenige beschleicht vielleicht sogar das diffuse Gefühl, einem Abschied oder gar einem Leichenbegräbnis beizuwohnen, denn man kommt nicht um die Erkenntnis herum, …, daß der Europa-Gedanke an Überzeugungskraft verloren hat und müde geworden ist und daß wir vor einem entscheidenden Paradigmenwechsel stehen.
Mit den aktuellen Reibungsflächen nehmen die beunruhigenden Aspekte zu, genauso wie die Desintegrationserscheinungen. Und mit den Querelen sind wieder Frontstellungen aufgebrochen, wie sie die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts erlebten: nationale Gegensätze, in der Vergangenheit oft übertüncht durch euphemistisches Zukunftsgerede. Auch die innenpolitischen Polarisierungen (an denen sich der Staat mitunter nach Kräften beteiligt) erinnern an die unseligen bürgerkriegsähnlichen Zeiten in der Spätphase der Weimarer Republik.
So dramatisch, wie es Meier-Stein schildert, ist die Situation Gottseidank noch nicht, auch wenn diverse Staaten aus dem ehemaligen “Ostblock” je länger je mehr mit autoritären politischen Strukturen liebeäugeln. Aber auch jetzt schon macht sich eine Frage immer unüberhörbarer bemerkbar: In welche Richtung soll sich die Europäische Union bewegen und entwickeln? Was ist denn letztlich deren tiefer Sinn und Zweck, insbesondere heute, wo die grossen geopolitischen Umwälzungen immer sichtbarer werden?
Meier-Stein, Autor des umfangreichen Werks “Die Reichsidee 1918–1945. Das mittelalterliche Reich als Idee nationaler Erneuerung”, ist wie kein zweiter berufen, sich mit dieser Idee im aktuellen politischen Kontext auseinanderzusetzen:
Diese zeitgeschichtlichen Grunderfahrungen haben verschiedene Alternativideen aufkommen lassen, um dem erodierenden Europa einen neuen Orientierungsrahmen zu geben, aus dem ihm vielleicht neue Kraft zuwächst. Dies und die nationale Renaissance, die in vielen Ländern zu beobachten ist, haben rechte Denker dazu inspiriert, den alten Reichsgedanken zu reanimieren.
Doch dann folgt auch gleich die kalte Dusche:
Ob die Wiederaneignung der alten Reichstradition (unter welchen Vorzeichen auch immer) als heilende und lösende Alternative zur EU-Skepsis in Frage kommen kann, muß im Hinblick auf die heutigen Generationen, die auf einer ganz anderen Realitätsebene leben, freilich sehr bezweifelt werden. … Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob das graue Siechtum der EU dazu angetan sein könnte, eine Fülle neuer und alternativer Perspektiven hervorzubringen.
Aber das ist ein Trugbild,
denn eine Welt aus Monaden bzw. atomisierten Individuen, die sich in der Beschränktheit ihres privaten Wohlstands und Glücks Genüge tun und sich keinem belebenden höheren Interesse zuwenden, kann schlechterdings nichts Überfliegendes, keine großartigen und fruchtbaren politischen Konzeptionen hervorbringen, die auf eine begeisternde Resonanz stoßen könnten. Die Zeit bleibt befangen in dem unendlich abgestandenen, unausgelüfteten Muff der herkömmlichen Reflexkultur.
Die infolge der Krisis weitverbreiteten Unmutsgefühle und die labile Stimmung dürfen uns nicht dazu verleiten, anzunehmen, daß eine große Bewegung entstehen könnte, die das Reich zu einer großen politischen Frage machen könnte. Nur wenn das Alte noch stark genug lebt, kann es fruchtbar und wirksam gemacht und zu einer elementaren Kraft werden, kann es einen Erneuerungswillen erzeugen. …
Damit sich eine Idee durchsetzen kann, muß sie im Gedächtnis der Menschen immer lebendig sein. Und es müssen ein gemeinsamer geschichtlicher Horizont, ein Verstehenshorizont und ein verbindendes Grundgefühl da sein, wenn eine Idee einer Nation zugänglich sein soll. Es muß eine Konvention geben, die einer Idee kommunikative Bedeutung gibt, sie verständlich und plausibel macht. Aber der Bruch mit aller Tradition nach 1945 hat dazu geführt, daß der Reichsgedanke keine nennenswerte Substanz und Bindekraft mehr hat.
Kurz‑, die Reichsidee steht aus der Sicht von Meier-Stein heute völlig ausserhalb des aktuellen Zeitgeistes:
Es sieht ganz danach aus, daß im Bewußtsein der Deutschen die Reichsgeschichte ganz abgesunken und durch die Asche des Dritten Reiches sowieso kontaminiert ist.
Für unsere materialistische, hedonistische Zeit sind die Konsumtempel die Sinnstifter der Zukunft geworden; Produkte, Marken, Events, die Warenhäuser mit ihren künstlichen Erlebniswelten bieten vielfältige Identifikationsmuster an. „Selbstverwirklichung, uneingeschränkte Mobilität, unendlicher Konsum“ sind die Leitbilder in einer Welt der Beliebigkeit geworden.
Es wird im Artikel aber auch spürbar, dass er dem Reichsgedanken im Grunde immer noch nachtrauert, wenn er als Hindernisgrund für dessen Verwirklichung das tief in den Materialismus abgesunkene Massenbewusstsein bezeichnet:
In dem sich permanent beschleunigendem Prozeß von Innovation, Produktion und Konsumation ist nichts mehr von dauerhafter Bedeutung. Die versachlichte und durchrationalisierte technische Welt, die keinen Moment stillsteht, verlangt nach Menschen, die leicht verfügbar, austauschbar und „flexibel“ sind – und uninspiriert von konservativen Grundintentionen. Nichts darf beim Alten bleiben oder stillstehen, alles muß ständig in höchster Bewegung sein, sich der Unabänderlichkeit der Prozesse unterwerfen. …
Alle gesellschaftliche Teilnahme und Kommunikation läuft über Konsum. … Alles was die moderne Zukunftswerkstatt behindert – d. h. was nicht profitabel ist, die totale Ökonomisierung aller Lebensbereiche hemmt – muß eliminiert werden: Familie, Heimat, Staat, Nation, Religion. Der Prozeß wird durch die elektronische Kommunikation nur noch extrem verstärkt und beschleunigt. Entstanden ist eine Welt der Beliebigkeiten in einem Meer von Möglichkeiten: Individualismus mit „Selbstverwirklichung“, uneingeschränkter Mobilität, unendlicher Konsum, Multi-Kulti-Vergnügen, grenzenlose Kommunikation, Wahl der Sexualität, Maximierung des Profits.
Und so zieht er denn unter dem Titel “Keine Restauration möglich” das Fazit:
Daß unter diesen Umständen die großen politischen Entwicklungslinien auf eine Restauration des Reiches hinauslaufen, kann schwerlich behauptet werden. Es fehlt einer Wiederherstellungsidee die Suggestionskraft, die politisch-historische und literarisch-philosophische Begründung und eine glaubhafte, in die Zukunft weisende Substanz, woraus sich vielfache Energien schöpfen ließen. …
So bleibt am Ende nicht viel mehr, als eine bittere Verlustrechnung aufzumachen. Wer indes seine Hoffnungen darauf abstellt, daß das künftige Drehbuch von der Reichsidee inspiriert und vielleicht geschrieben wird und alle Anzeichen dafür sammelt, sollte sich aber auch über das Gesetz der Nichtwiederholbarkeit des Gleichen im klaren sein.
Nun, jemand, der genau diesen Versuch machte, ein künftiges Drehbuch von der Reichsidee zu schreiben, hatte durchaus auch die Kompetenz dafür: Otto von Habsburg in seinem 1986 erschienen Buch “Die Reichsidee. Geschichte und Zukunft einer übernationalen Ordnung”. Seinen Gedanken wollen wir uns in der nächsten Folge,
wie immer am Freitag, den 17. September zuwenden.
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