Afd, Pegida, Identitäre … Das waren in der letzten Zeit häufige Schlagzeilen aus Deutschland. Dass sich aber im Hintergrund ohne grosses Mediengetöse auch ganz andere Entwicklungen abzeichnen, möge der folgende Newsletter des “Bürgerrats Demokratie” deutlich machen.
160 mit dem Los bestimmte Bürgerinnen und Bürger trafen sich während vier Tagen in Leipzig, um über die Stärkung der Demokratie in Deutschland zu diskutieren:
„Ich bin begeistert, wie respektvoll an den Tischen miteinander umgegangen wurde“, sagt eine der gelosten Bürgerinnen und ihr Gesicht strahlt dabei. „Die Leute hier haben so viel Potential, das muss wirklich dringend abgerufen werden“, ergänzt ein anderer Teilnehmer. Und in der Pause erzählt mir eine junge Frau: „Ich finde es richtig schade, dass wir uns jetzt nicht noch einmal treffen. Die Gespräche mit den anderen waren so gut, dass wir einfach sitzen geblieben sind statt in die Pause zu gehen. Ich bin kein bisschen müde…“ Und das nach vier Tagen hoher Konzentration mit Experten-Runden, Rückfragen, Tisch-Diskussion, Zusammenfassung, Podiumsdiskussion zum nächsten Thema …
Das Wetter war trübe am 27. und 28. September in Leipzig, aber der riesige Konferenz-Raum im Hotel fing nach und nach förmlich an zu leuchten. Vor zwei Wochen waren hier, aufgeregt und noch etwas unsicher, 160 Menschen zusammengekommen. Niemand kannte den oder die anderen. Schnell war klar: Hier wird niemand innerhalb der eigenen „Filterblase“ bleiben. Der junge Flugzeugtechniker aus Hamburg kam mit dem Motorsegler, während der mit Tattoos und weißem Bart geschmückte Rocker seine Harley parkte. Die älteste Teilnehmerin mit 82 Jahren kam mit der Bahn, ebenso die meisten jungen Leute zwischen 16 und 20. Alle hatten nur eines gemeinsam: Der Zufall brachte sie hier nach Leipzig!
Im Konferenzraum dann eine Verwandlung: Jeder einzelne Mensch wuchs über seine Rolle als Privatperson hinaus, in die Verantwortung fürs Ganze. Alle wussten, statt ihrer hätte da auch jemand von 400.000[1] anderen sitzen können. Auch die Tisch-Zusammensetzung wurde per Los bestimmt – an vier Tagen kamen so immer neue Gruppen zusammen. 23 Tische in zwei riesigen Räumen, mit je sieben Plätzen, plus einer Moderation und einer Assistenz fürs Protokoll. An vier intensiven Tagen wurden mehr als 80 Vorschläge zur Demokratiestärkung erarbeitet, die auf 22 wesentliche, umsetzbare Forderungen und Empfehlungen an die Politik verdichtet wurden.
Ganz eindeutig: Es braucht eine Ergänzung der parlamentarischen Demokratie, am besten durch eine Kombination von beratender Bürgerbeteiligung und verbindlichen Abstimmungen. Das Ganze soll staatlich mitfinanziert und durch umfassende Pro- und Contra-Informationen begleitet werden. Und: Es soll mehr bundesweite Bürgerräte geben, von der Bevölkerung, dem Parlament oder der Regierung angestoßen.
„Was für ein Wagnis – so viel haben wir den Bürgerinnen und Bürgern bisher nicht zugetraut“, sagt ein Beobachter aus dem Bundesumweltministerium. Der Saal vibriert vor Energie. Die Ernsthaftigkeit und Würde, mit der hier diskutiert wird, fasziniert und ergreift die Menschen vor Ort — die zahlreichen Beobachter (u.a. von der EU-Kommission, von Universitäten, von Fridays for Future, vom Bundeskanzleramt…) ebenso wie die Medienvertreterinnen und vor allem die gelosten Menschen selbst. Fast alle Teilnehmenden heben die Hand als Antwort auf die Frage, wer sich nun auch weiter politisch engagieren wolle. Wow!
Innerhalb von vier Tagen haben die Menschen in Leipzig gelernt, ihre Kompetenz einzusetzen, ihr Potential zu nutzen und sind von Zuschauern zu Gestalterinnen und Gestaltern geworden. Für mich ist mit diesem Experiment Gewissheit geworden, was ich vorher nur ahnte: Hier entsteht ein neues Element der demokratischen Teilhabe. Hier bildet sich politischer Konsens jenseits von Eliten, Grabenkämpfen und Besserwissertum. …
Und wer sich über das Resultat der viertägigen Diskussion kundig machen möchte, findet es hier.