Bevor wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir wieder aus dem gefallenen Universum in eine tiefere Einheit zurückkommen, müssen wir aus der Sicht Griffiths nochmals einen vertieften Blick darauf werfen, wie wir da überhaupt hineingekommen sind.
Im “Garten Eden”, dessen Mythos weit hinter die Schöpfungsgeschichte in der Bibel zurückgeht, lebten — so Griffiths — Mann und Frau in einer undifferenzierten Einheit und in vollkommener Einheit mit der umgebenden Natur. Es gab eine Einheit zwischen dem Mann und der Frau, eine Einheit innerhalb der menschlichen Person und eine Einheit mit dem Geist Gottes. Irgendwann kam es dann zu einem Herausfallen aus diesem Zustand paradiesischer Einheit, zum sog. “Sündenfall”.
Und genau an diesem Punkt beginnt schon die erste interessante Diskussion: Können wir überhaupt von einem “Sündenfall” sprechen, oder war dieses Herausfallen aus der Einheit vielleicht nicht eher ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Entfaltung des menschlichen Bewusstseins, das sich Schritt um Schritt aus einem dumpfen urmenschlichen Einheitsgefühl zu befreien begann?
Dieser Ansicht ist einer der Haupvertreter der integralen Theorie, Ken Wilber:
Ken Wilber und viele andere sehen den Sündenfall heute eher als einen Aufstieg denn als einen Abstieg und meinen, dass die ursprüngliche undifferenzierte Einheit fragmentiert werden musste. Der Mensch musste bewusst werden und eine eigene Individualität entwickeln und erwerben.
Griffiths — obwohl ein grosser Bewunderer von Wilber — stellt sich gegen diese Interpretation:
Als sich das Bewusstsein entwickelte, wurden die Menschen sich ihrer selbst als getrennt vom Körper und getrennt von der Mutter bewusst. In diesem Zustand konnten sie sich dem Geist öffnen und dem Geist erlauben, sie zu führen, aber sie konnten sich auch vom Geist trennen. Sie konnten vom Geist wegfallen und sich auf sich selbst konzentrieren. Dieses Abfallen vom Geist in das Ego, die Seele, das getrennte Selbst, und damit die Trennung von Gott, ist das Wesen der Erbsünde. Das wird in der Genesis in der Geschichte vom Essen der Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse erzählt.
Die Essenz davon war Ungehorsam. Der Mensch hörte nicht auf den Geist. Er folgte nicht der Führung des Geistes, und so fiel er von ihm ab in ein abgespaltenes Selbst. Dann findet die ganze Tragödie der menschlichen Existenz statt. Sobald man vom Geist in sich selbst gefallen ist, in sein getrenntes Selbst, ist man geteilt. Die Menschheit ist nun geteilt; Mann und Frau sind von der Natur getrennt, Mann und Frau sind voneinander getrennt, und Mann und Frau sind von Gott getrennt. Es findet eine totale Desintegration statt. Das ist der Fall des Menschen.
Es ist ein sehr allmählicher Prozess, der anfangs nicht klar ist, aber in seinen Auswirkungen eskaliert. Die Tragik ist, dass die Spaltung umso größer wird, je mehr sich die menschlichen Fähigkeiten entwickeln. Am Anfang ist es nur ein sehr kleiner Riss, aber wenn der Mensch sein Bewusstsein und sein ganzes Potential entwickelt, nimmt diese Fähigkeit zur Trennung immer mehr zu.
Diese Position nimmt auch die Qabbalah ein, die Blüte der jüdischen Mystik. Sie betrachtet das materielle Universum lediglich als letztes Element eines äonenlangen Schöpfungsprozesses. Dieser Prozess wird in der Glyphe des Lebensbaums symbolisiert. Die Menschheit ist zurzeit infolge des Falles noch von diesem Quell allen Lebens getrennt. Der Weg zurück ist steinig und mühsam. Ernst Müller fasste diese Tatsache in seinem Buch “Der Sohar und seine Lehre” so zusammen:
Durch die Urtatsache des Sündenfalls geht der zeitlos-selige Urzustand der Menschheit über in den zeitlichen Sinn des inneren Kampfes, der in immer neuen Kräften sich emporringenden „ Umkehr”, der immer höher sich stufenden Gotteserkenntnis, Gottesfurcht und Gotteseinung. Epochen des Verfalls und des Aufstiegs wechseln miteinander, erstere bestimmt durch das Walten des bösen Prinzips, letztere durch einzelne Menschen, welche für sich die Verbindung des Menschlichen und Göttlichen vollzogen haben und noch mehr durch ihr irdisches Dasein selbst als durch äußere Werke gestaltenden Einfluß üben auf das Heil der Erde.
Wessen Sichtweise ist zutreffender, die von Wilber oder von Griffiths?
Der birsfälder.li-Schreiberling neigt Griffiths zu, — schon allein wegen der Tatsache, dass unser subjektives Gefühl der Trennung von einem umfassenderen Sein und Leben auch in der griechischen Philosophie ihren Niederschlag gefunden hat: Was drückt das berühmte Höhlengleichnis von Plato denn anderes aus!? Peter Kingsley zeigt in seinem Buch “Die Traumfahrt des Parmenides. Die mystischen Wurzeln der westlichen Zivilisation” auf, dass die gleiche Einsicht schon bei den vorsokratischen Philosophen lebendig war.
Ken Wilber und Bede Griffiths treffen sich aber wieder in der Beurteilung, dass wir in dem Moment, wo wir uns als Mensch in dem Zustand der Trennung absolut setzen, auf die schiefe Bahn geraten:
Die Folgen dieser inneren Zersplitterung sind wirklich erschreckend. Ken Wilber hat es in seinem Buch “Das Atman-Projekt” (1980) auf eine äußerst interessante Weise ausgedrückt, indem er sagt, dass der Atman, der Geist, dem Menschen von Anfang an gegenwärtig ist. Atman ist Sanskrit für Geist. Wenn die Menschen auf den Geist reagieren, wachsen sie harmonisch; Körper und Seele wachsen in der Harmonie des Geistes zusammen. Aber wenn sie sich vom Geist trennen, haben sie immer noch dieses Ziel der unendlichen Transzendenz, denn der Geist ist unendlich und ewig und jenseits von allem.
Aber nun hat die gefallene Menschheit die Vision des jenseitigen Geistes verloren und alles konzentriert sich auf das (abgetrennte und deshalb falsche) Selbst. Das Selbst wird zum Zentrum und als solches wird es zum Ersatz für Gott. Das ist die große Tragödie. In dem Maße, wie sich das Bewusstsein und der Sinn für ein separates Selbst entwickelt, verliert man den Sinn für eine spirituelle Kraft jenseits von sich selbst. Alles konzentriert sich auf das Selbst und man wird für sich selbst zu Gott. Jeder Mensch möchte auf diese Weise Gott sein. Wir alle haben in uns den Instinkt für Gott, für das Ultimative, aber wir haben den Sinn für das ultimative Jenseits verloren. So wiederholt sich in jedem Menschen der Fall in ein separates Selbst.
Die großen Tyrannen der Geschichte, Nero oder Stalin oder Hitler sind Beispiele dafür, dass der Mensch sich selbst zu Gott macht. Das zieht sich durch die ganze Menschheitsgeschichte. Je mehr sich die Kräfte entwickeln, je mehr sich das eigene Bewusstsein und das eigene Ego entwickeln, desto stärker wird dieses Atman-Projekt. Ob es nun um Macht oder Reichtum oder Vergnügen oder Erfolg geht, was passiert, ist, dass man sich auf einen Ersatz für Gott konzentriert und ein falsches Ego anstelle des wahren Selbst schafft. Das ist die Tragödie des Sündenfalls, die wir alle erleben, denn sie zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Das ist die Situation eines jeden von uns.
Wie auch immer wir also “den Fall aus dem Garten Eden” interpretieren, Tatsache ist, dass wir als Menschheit immer noch in einem Zustand tiefster Spaltung leben, — gerade auch auf politischer Ebene: Das Damoklesschwert der nuklearen Bewaffnung ist das perfekte Symbol dafür. Und dass diese Spaltung auch in uns lebt, davon können die Heerscharen von Psychoanalytikern, Psychiatern und Psychologen eine Liedchen singen. Unter ihnen ist keiner so tief in diese Problematik eingedrungen wie C.G. Jung.
Nach dieser Vertiefung der Position Griffiths können wir uns nun definitiv der Frage zuwenden, wo er denn Licht am Horizont sieht, — und dies wie immer
am kommenden Freitag, den 25. Juni
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