Mit Sigmund Freud begann die Erkenntnis, dass unser Tagesbewusstsein lediglich jener Teil eines “Eisberges” ist, der über das Wasser ragt. Darunter verbirgt sich das Unbewusste, das sich nach den Erkenntnissen von C.G. Jung aus dem persönlichen und dem kollektiven Unbewussten mit seinen archetypischen Kräften zusammensetzt.
Die Tatsache, dass es auch ein Überbewusstsein gibt, bahnt sich im Westen inzwischen langsam, aber sicher ebenfalls seine Bahn. Einer der Pioniere, der schon in den 30er- und 40er-Jahren darüber die inzwischen zum Klassiker gewordenen Bücher “The Quest of the Overself” und “Wisdom of the Overself” verfasste, war Paul Brunton.
Es ist kein Zufall, dass Brunton seine Erkenntnisse während eines längeren Aufenthalts in Indien gewann, wo er den berühmten indischen Mystiker Ramana Maharshi in Tiruvannamalai kennenlernte und sein Schüler wurde. Seine Indienerlebnisse schilderte er anschliessend in “A Search in Secret India” . (Sein Buch “A Search in Secret Egypt” nimmt es übrigens locker mit jedem Krimi auf)
Bede Griffiths hält im Kapitel “Aufstieg zur Gottheit” fest, welch wichtige Rolle Indien über Jahrtausende hinweg für die Erforschung des menschlichen Bewusstseins gespielt hat. Er verweist auf den grossen Durchbruch im sechsten Jahrhundert vor Christus, der mit den Upanishaden und dem Auftreten des Buddhas eintrat:
Dies war ein Durchbruch jenseits der Sinne, jenseits der Vorstellungskraft und jenseits des Verstandes, hin zur Erfahrung der absoluten, transzendenten Wirklichkeit. Seit dieser Zeit hat es in Indien eine Erforschung dieser höheren Bewusstseinsebenen gegeben, die weiter gegangen ist als irgendwo sonst auf der Welt. Es ist eine Erforschung des inneren Raumes, die viel bedeutender ist als die Erforschung des äußeren Raumes. Es ist die Entdeckung der Bewusstseinsebenen in der menschlichen Existenz, die zur ultimativen Realität führen. Dies ist etwas, das eine tiefe Bedeutung für die ganze Welt hat, und heute entdecken es viele Menschen sowohl im Westen als auch im Osten. Vor allem im Westen hat es in letzter Zeit die große Entdeckung gegeben, dass es diese innere Welt zu erforschen gibt, obwohl das Wissen und die Erfahrung darüber vorher keineswegs fehlten, …
Es beginnt mit der Entdeckung von Brahman, der einen Wirklichkeit hinter allen Phänomenen. Dann kommt die Erkenntnis, dass diese eine Realität hinter allen Phänomenen eins ist mit der Realität hinter dem menschlichen Bewusstsein. Ob wir uns von der äußeren Welt aus bewegen, um die Wirklichkeit dahinter zu entdecken, oder von der inneren Welt aus, um die Wirklichkeit im Inneren zu entdecken, wir begegnen dieser einen Wirklichkeit, dem brahman, oder dem atman, dem Selbst, wie es genannt wird.
Es geht also um die Suche nach dem Selbst, der inneren Wirklichkeit des Menschen.
Schon um etwa 500 v. Chr. erklärte eine heilige Schrift:
Jenseits der Sinne (indriyas) ist der Geist, das manas. Jenseits des Geistes ist der Intellekt, der Buddhi. Jenseits des Intellekts ist das mahat, das große Selbst. Jenseits des mahat ist das avyakta, das Unmanifeste, und jenseits des Unmanifesten ist purusha.
Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen dem Verstand (manas), der niedrigsten Ebene des Geistes, und dem Intellekt, der die transzendente Realität erkennt. Thomas von Aquin unterscheidet ganz ähnlich zwischen der “ratio”, dem logischen, analytischen Aspekt des Geistes, und dem höheren “intellectus”, der die geistigen Gesetzmässigkeiten erfassen kann.
Griffiths weist darauf hin, dass wir in der westlichen Psychologie lediglich bis zum Intellekt gegangen sind, aber die nächste Stufe eröffnet für die meisten im Westen Neuland. Diese nächste Stufe ist die des mahat, das das große Selbst, das kosmische Selbst oder das kosmische Bewusstsein ist. Das kosmische Bewusstsein erwächst aus dem Verständnis, dass die Welt der Sinne, die physische Welt, eine Einheit ist, in der alles miteinander verbunden ist. Wie die heutige Wissenschaft sagt, ist die gesamte physische Welt ein Netz von miteinander verbundenem Sein, und wir sind Teil dieses Netzes von Wechselbeziehungen. So ist auch unser individuelles Bewusstsein Teil eines größeren Bewusstseins, an dem wir alle teilhaben. Das ist die kosmische Ordnung, das kosmische Bewusstsein. Darin sind, wie wir später sehen werden, alle höheren Seinsbereiche, die Engel, die Götter und die kosmischen Kräfte enthalten.
Jenseits dieser Welt des mahat ist das avyakta, das Unmanifeste. Bevor etwas in die Manifestation kommt, um vom Geist erkannt zu werden, ist es zuerst unmanifestiert. Es befindet sich im Samen. Das ist das, was mula prakriti genannt wird, die Wurzelnatur oder die kosmische Natur, in der alles versammelt ist. Mit der Sprache von David Bohm könnten wir sagen, dass dies die implizite Ordnung ist. Die mula prakriti ist der Ort, an dem alle Dinge in einem impliziert sind, wie ein Samen, aus dem die ganze Schöpfung hervorgeht. Aus der mula prakriti kommt die gesamte Schöpfung in die Manifestation in der Welt, die wir sehen. Dann, jenseits der avyakta, ist purusha, die große kosmische Person, die wir betrachtet haben, und er ist das Ende. Jenseits von purusha gibt es nichts. Er ist das Ziel. So bewegen wir uns von den Sinnen und dem Geist zum Intellekt, zum kosmischen Bewusstsein, zum Unmanifesten und schließlich zur höchsten Person.
Bede Griffiths ist, wie die Lektüre von “A New Reality” höchst deutlich macht, tief in das hinduistische, aber auch buddhistische Universum eingedrungen. Trotzdem ist er ein christlicher Mystiker — allerdings kein Kirchenchrist — geblieben.
Die Anzahl der Leserinnen und Leser dieser Serie tendierte bei den letzten Folgen gegen null. Der birsfälder.li-Schreiberling wird deshalb der Frage, wie es Griffiths gelang, zwischen diesen tiefen Einsichten östlicher Weisheit und den westlichen mystischen Traditionen der drei Buchreligionen solide Brücken zu bauen, irgendwann später wieder aufgreifen.
Wer an einer guten Einführung in das Leben und Wirken von Bede Griffiths auf deutsch interessiert ist, dem sei das Buch “Eine Welt, Eine Menschheit, Eine Religion” seines guten Freundes Roland R. Ropers empfohlen.
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