“Seit mei­ner Kind­heit füh­le ich mich zu dem katho­li­schen Glau­ben hin­ge­zo­gen. Ich den­ke an die­se Din­ge seit Jah­ren, mit der gan­zen Inten­si­tät der Lie­be und Auf­merk­sam­keit, die mir ver­gönnt ist; einer zu mei­nem Unglück bekla­gens­wert schwa­chen Inten­si­tät, mei­ne Unvoll­kom­men­heit wegen, die aber, wie mir scheint, den­noch im Wach­sen begrif­fen ist. Je mehr sie jedoch wächst, des­to stär­ker wer­den auch die Gedan­ken, die mich von der Kir­che fern­hal­ten”.
So schreibt Simo­ne Weil in “Ent­schei­dung zur Distanz”.

Die­se inne­re Zeris­sen­heit ange­sichts eines “real exis­tie­ren­den Chris­ten­tums” zeigt sich noch deut­li­cher bei ihrer Kri­tik an der päpst­li­chen Behaup­tung, die Kir­che sei dem mys­ti­schen Leib Chris­ti gleich­zu­set­zen (Pius XII. in sei­ner Enzy­kli­ka. Er wird seit Rolf Hoch­huths “Stell­ver­tre­ter und sei­ner Rol­le in den sog. Rat­ten­li­ni­en kon­tro­vers dis­ku­tiert.). Sie zögert nicht zu sagen: “Die Kir­che ist ein tota­li­tä­res gros­ses Tier gewe­sen. Sie hat mit der Ver­fäl­schung der gesam­ten Mensch­heits­ge­schich­te zu apo­lo­ge­ti­schen Zwe­cken ange­fan­gen.” Das Grund­übel der Kir­che seit ihrer poli­ti­schen Eta­blie­rung in der spä­ten Anti­ke sei gewe­sen, dass man Ana­lo­gien zwi­schen dem Hei­li­gen Geist und dem Insti­tu­tio­nel­len der Kir­che geschaf­fen habe und sie für sakro­sankt erklär­te (Wolf­gang W. Müller).

Anders gesagt: Die kirch­li­chen Hier­ar­chien hät­ten tie­fe Glau­bens­wahr­hei­ten und ‑erkennt­nis­se sozu­sa­gen usur­piert und für ihre eige­nen Macht­zie­le in Beschlag genom­men. Damit stimmt sie mit der radi­ka­len Kir­chen­kri­tik sowohl eines Karl Heinz Desch­ner (“Kri­mi­nal­ge­schich­te des Chris­ten­tums”, 10 Bän­de) als auch des Theo­lo­gen und Psy­cho­ana­ly­ti­kers Eugen Dre­wer­mann überein.

Was zog sie denn trotz­dem unwie­der­steh­lich zu dem katho­li­schen Glau­ben hin? Mehr­fach beton­te sie, wie tief sie sich von der römisch-katho­li­schen Lit­ur­gie und der Eucha­ris­tie inner­lich berührt und  genährt fühl­te. Es kann des­halb nur jenes “inne­re Feu­er” sein, das in der Kir­che trotz aller Unzu­läng­lich­kei­ten, Irr­tü­mer und Ver­bre­chen nie ganz erlösch­te und das sei­nen reins­ten Aus­druck in der christ­li­chen Mys­tik gefun­den hat. Simo­ne Weil: “Der wah­re Geist des Chris­ten­tums ist glück­li­cher­wei­se durch die Mys­tik erhal­ten geblie­ben. Aus­ser­halb der rei­nen Mys­tik aber hat der römi­sche Göt­zen­dienst alles verunreinigt.”

Viel­leicht macht es Sinn, hier einen Blick auf die Begriffs­be­stim­mung von “Mys­tik” zu werfen:
“Der Aus­druck Mys­tik (von alt­grie­chisch μυστικός mys­ti­kós ‚geheim­nis­voll‘, zu myein ‚Mund oder Augen schlie­ßen‘) bezeich­net Berich­te und Aus­sa­gen über die Erfah­rung einer gött­li­chen oder abso­lu­ten Wirk­lich­keit sowie die Bemü­hun­gen um eine sol­che Erfah­rung.” (Wiki­pe­dia)

Sol­che direk­te Erfah­run­gen mit einer Wirk­lich­keit, die C.G. Jung mit dem Begriff  “numi­nos” zu erfas­sen such­te, sind selbst­ver­ständ­lich nicht auf das Chris­ten­tum beschränkt:

“In mono­the­is­ti­schen Reli­gio­nen wie Chris­ten­tum, Juden­tum und Islam ist mys­ti­sche Erfah­rung als Got­tes­er­fah­rung bzw. Glau­bens­erfah­rung auf die gött­li­che Wirk­lich­keit bezo­gen. Sie fin­den in unter­schied­li­chen Begrif­fen und Wen­dun­gen Aus­druck, die oft­mals auch in Grund­schrif­ten die­ser Reli­gio­nen Ver­wen­dung fin­den: Licht, Geis­tes­tau­fe, Feu­er (Bren­nen­der Dorn­busch), Pfingst­wun­der, Lie­be (Brie­fe des Johan­nes), gött­li­ches Du, Gott als inners­tes Innen (bei Augus­ti­nus), Dhikr.

Nichtt­he­is­ti­sche Tra­di­tio­nen wie Bud­dhis­mus, Jai­nis­mus und Dao­is­mus brin­gen mys­ti­sche Erfah­run­gen zum Aus­druck, ohne sich auf eine gött­li­che Per­son oder Wesen­heit zu bezie­hen. Auch Ver­tre­ter des Hin­du­is­mus berich­ten von mys­ti­schen Erleb­nis­sen, unter ande­rem Rama­krish­na.

Mys­ti­sche Erfah­rung wird in der christ­li­chen Mys­tik auch als Mys­te­ri­um oder unio mys­ti­ca bezeich­net, im bud­dhis­ti­schen Kul­tur­raum wird sie etwa als Sato­ri oder Kens­hō benannt, im hin­du­is­ti­schen Raum als Nir­vi­kal­pa Sama­dhi.” (Wiki­pe­dia)

Es geht offen­sicht­lich immer um eine direk­te per­sön­li­che und tran­szen­den­ta­le Erfah­rung einer sehr rea­len “Wirk­lich­keit” jen­seits unse­rer mate­ri­el­len, raum-zeit­li­chen Welt. Die Lis­te der Mys­ti­ker und Mys­ti­ke­rin­nen inner­halb des christ­li­chen Kul­tur­krei­ses ist lang. Auch die Eid­ge­nos­sen­schaft hat in Gestalt des Niklaus von Flüe einen gros­sen Mys­ti­ker her­vor­ge­bracht, und sei­ne Aus­strah­lung ist bis heu­te leben­dig geblieben.

Simo­ne Weil hat ohne Zwei­fel eini­ge Kon­tak­te mit dem “Numi­no­sen” gehabt. Und sie hat auch über die Vor­aus­set­zun­gen geschrie­ben, wel­che die Grund­la­ge für sol­che Erfah­run­gen bil­den kön­nen: “Silence” — inne­re Stil­le, und “Atten­te” — wohl am bes­ten mit “gelas­se­ne, kon­zen­trier­te Auf­merk­sam­keit des Her­zens” zu über­set­zen. Mit die­sen bei­den Begrif­fen wer­de ich mich in der nächs­ten Episode

am Sa, den 14. Novem­ber etwas ver­tief­ter auseinandersetzen.

 

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