Nicht nur die Kirche war im Mittelalter streng hierarchisch organisiert, sondern auch die ganze Gesellschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Narren auch ausserhalb “der heiligen Mutter Kirche” tummelten, — und wie 🙂 !
Beginnen wir mit den Stadtnarren: Sie waren öffentlich angestellt und hatten die Aufgabe, die Bewohner bei Festen und öffentlichen Feiern zu unterhalten. Kleinere Städte, die sich keinen ganzjährigen Narren leisten konnten, mieteten sich halt einen. Der letzte bekannte Stadtnarr in Frankreich starb 1724 in Lille. In Nürnberg hingegen riss er seine Possen noch am Ende des 18. Jahrhunderts. Berühmt geblieben ist der Schembartlauf der Stadt, an dem u.a. ein Narr Nüsse verteilte.
Der Job war übrigens recht anspruchsvoll: Wenn der Stadtnarr in Deutschland zum Beispiel an eine Hochzeit geladen war, musste er dem jungen Paar, dessen Familie und Berufsstand mit einer schwungvoll gereimten Rede gratulieren. Dann konnte ihm jeder Gast, der wollte, ein Thema zur Improvisation vorschlagen. Es war meistens so gewählt, dass es zu einem satirischen Couplet gegen das eine oder andere Mitglied der Hochzeitsgesellschaft inspirierte. Dazu brauchte es einen scharfen Verstand, Schlagfertigkeit und die Gabe, witzig und originell zu formulieren. Ein berühmter Nürnberger Stadtnarr kannte sogar alle ins Deutsche übersetzten Dichter der Antike auswendig und schöpfte aus diesem reichhaltigen Repertoire, wenn er seine satirischen Sprüche zum Besten gab.
Aber nicht nur die Städte, auch die Zünfte besassen ihre Narren. Sie traten gewöhnlich bei den grossen Feierlichkeiten auf, etwa beim Fest des Zunft-Schutzheiligen oder wenn ein neuer Meister aufgenommen wurde. Ein Zunftnarr hat übrigens an der Luzerner Fasnacht bis heute überlebt 🙂 .
Eigentlich ist es da nur logisch, dass gegen Ende des Mittelalters die Idee aufkam, eigene “Narrenzünfte” zu schaffen. In Frankreich etwa bildeten sich in vielen Städten Narren-Bruderschaften, z.B. die “Enfants-sans-souci”, die “Mère Sotte” oder die “Cornards”. Und diese heizten den guten Stadtbürgern zum Teil gewaltig ein. Maurice Lever schildert das recht anschaulich:
Die cornards aus Rouen und Evreux wählten jedes Jahr einen Anführer, den sogenannten Abbas Corandorum, der am Tage des hl. Barnabas auf einem Esel, mit einer Mütze auf dem Kopf und dem Bischofsstab in der Hand, durch die Stadt ritt. Er wurde von einer Truppe von cornards eskortiert, die Couplets in witzigem Kauderwelsch sangen. Das ganze Fest über hatten die cornards Befugnis, Recht zu sprechen, und zwar mit ausdrücklicher Genehmigung des Parlaments von Paris, bekräftigt durch einen Erlaß des Parlaments von Rouen. Das bedeutet, daß sie für diese kurze Zeitspanne als völlig legale Institution anerkannt waren, die im Besitz der Rechtsgewalt war.
Während des Karnevals fiel ganz Rouen unter ihre Herrschaft. Sie zogen durch die Straßen und versetzten die Bevölkerung in Angst und Schrecken, vor allem die Adligen, deren lächerliche oder empörende Taten unerbittlich, unter Einsatz von Anklagereden, Plädoyers und grotesken Urteilssprüchen öffentlich abgeurteilt wurden. Drei Tage lang hielten die cornards ein regelrechtes fahrendes Gericht ab. Sie postierten sich unter den Fenstern ihrer Opfer: Winkeladvokaten, betrogene Ehemänner, unehrliche Kaufleute, heruntergekommene Priester, Scharlatane usw., und geißelten sie mit ihren Spottreden.
Solange diese Saturnalien dauerten, traute sich kein Bürger, die Nase vor die Tür zu stecken; in ihrem Haus verbarrikadiert, hörten die Bewohner mit schweißbedeckter Stirn, wie das spöttische Gejohle der Menge näherkam. Lange vor Karneval hatten nämlich die cornards die Stadt sorgfältig durchkämmt und über jeden einzelnen den Tratsch der Klatschbasen des Viertels eingeholt, mit dem diese ja niemals geizen. — In guter Rabelaisscher Tradition bildete ein riesiges Festmahl auf dem Marktplatz Höhepunkt und Abschluß des Festes.
Die berühmteste Narrenzunft war aber ohne Zweifel die “Compagnie de la Mère Folle” in Dijon. Sie bestand aus über 500 Personen, vom Adel bis zu Kaufleuten und einfacheren Bürgern reichend. An der Spitze der Gesellschschaft stand ein Narrenkönig, der den Titel “Mère Folle” trug, (eine interessante Parallele zu den “Mères des Compagnons du Devoir”. Die “Compagnons du Tour de France” ist noch heute eine hoch angesehene, ehrwürdige und lebendig gebliebene Ausbildungstradition für handwerkliche Berufe in Frankreich).
Die “Mère Folle” war regelrecht militärisch organisiert — die Mitglieder bildeten die “Infanterie” — und sie genoss sämtliche Privilegien eines Souveräns. Sie besass einen umfangreichen Hofstaat, zudem eine Schweizergarde, berittene Garden, Gerichtsbeamte, Hofbeamte und einen Kanzler, — alle verschieden kostümiert. Wie schon die erwähnten “cornards” konnte die Zunft Recht sprechen. Und die Strafen waren hart: Wer die Gesellschaft verleumdete oder einem Mitglied geschadet hatte, wurde vor das Tribunal der “Mère Folle” zitiert und musste zur Strafe mehrere Gläser guten Burgunder hintereinander trinken! Bei Weigerung besetzte die Garde der Narrenzunft dessen Haus und liess sich von den Gastwirten der Umgebung auf Kosten des Bestraften bewirten, bis dieser einlenkte.
An ihren Festgelagen trugen alle Gäste “bunte Kostüme in Grün, Rot oder Gelb, sowie eine Mütze in derselben Farbe mit Schellen und mit zwei Zacken oder Hörnern. Ausserdem hielten sie ein Narrenzepter in der Hand, die mit einem Narrenkopf geziert waren”. Eine “Schweizergarde” von 50 Mann, ausgewählt aus den reichsten Handwerkern der Stadt, hielt unterdessen an der Saaltüre Wache.
Am eindrücklichsten waren aber die grossen Narrenparaden, die am Karnaval oder bei der Geburt, Hochzeit oder Geburtstag eines Fürsten gefeiert wurden. Dann zog die Gesellschaft vollzählig, in grossem Prunk und in genau festgelegter Reihenfolge durch die Stadt:
Nach den zwei Herolden kam die Infanterie in grossen, buntbemalten von Pferden gezogenen Wagen. Darin sassen verschiedene als Winzer verkleidete Würdenträger der Stadt und sangen satirische Lieder auf die damaligen Sitten. Die “Mère Folle” ritt auf einem Schimmel, begleitet von Hofdamen, Pagen und Lakaien und gefolgt von Offizieren, Knappen, Falknern. Es folgten 50 Ritter und die Standarte der Narrenzunft mit einer Unzahl von Narrenköpfen und dem Leitspruch: Stultorum numerus infinitus est, — der Irren Zahl ist grenzenlos. Den Schluss des Aufmarschs bildete “die Schweizergarde”.
A propos “Schweizergarde”: Einen Narren besassen auch die echten Schweizergarden!! Im 18. Jahrhundert hatte jedes Regiment einen eigenen “Lustig” (wovon sich das französische Wort “loustic” (komischer Vogel) ableitet. Dessen Aufgabe war es, die vom Heimweh geplagten Söldner vor Desertation und Selbstmord abzuhalten:
“Er unterhält die Männer und hindert sie mitunter daran, zum Strick zu greifen .… Er tröstet sie über die Stockhiebe hinweg, das Schwarzbrot, die Ketten und den Hochmut der adeligen Offiziere.”
Heute ist “der Narr” — abgesehen von einer interessanten Tarotkarte — in der breiten Öffentlichkeit neben Till Eulenspiegel vor allem im Bilde des Hofnarren gegenwärtig. Ihm ist die nächste Folge gewidmet, und dies wie immer
am kommenden Ostersamstag, den 3. März
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