Jedes mal wenn ein hochbezahlter Sicher­heit­sex­perte bemüht nüchtern erk­lärt, dass das Risiko bei einem Autoun­fall umzukom­men weitaus gröss­er sei, als bei einem islamistis­chen Anschlag in Europa getötet zu wer­den, fällt in Chi­na eine Beruhi­gungspille von einem Fab­rik­lauf­band,

während in einem Hob­bykeller irgend­wo vor Dres­den ein Nazi einen Brand­satz prä­pari­ert, um Recht und Ord­nung wieder­herzustellen,

während im Gebet­straum ein­er von Sau­di Ara­bi­en finanzierten Moschee in Europa auf das Ende des Abend­lands und den Tod der Ungläu­bi­gen angestossen wird,

während in Bern in einem Star­bucks ein Mäd­chen dem anderen klagt, dass ein­fach nichts los sei in dieser Stadt,

während im Mit­telmeer im Rück­en von mit Maschi­nengewehren beschützten Schnäp­pchen­touris­ten ein volles Flüchtlingss­chiff unterge­ht,

während vor den neusten Verkauf­szahlen auf dem Bild­schirm weltweit kleine Freuden­trä­nen in die Äugelein von Waf­fenin­dus­triellen treten,

während sich in Berlin Neukölln in einem Con­cept Store jemand nicht zwis­chen Lak­tose- und Gluten­frei entschei­den kann,

während im türkischen Kul­turvere­in neben­dran Män­ner stolz ein­er Lobrede Erdo­gans auf Putin in Erdo­gans Staats­fernse­hen lauschen,

während in einem Paris­er Vorort ein paar Jugendliche, die Base­ballmützen tief im Gesicht, einen Appel-Kopfhör­er im Ohr, einem jun­gen Mann mit run­der Brille und Jute­beu­tel «Scheis­sjude» nachrufen,

während eine Wis­senschaft­lerin in Zürich kopf­schüt­tel­nd vor ein­er Wandtafel, auf der die Begriffe «Geschlechter­gle­ich­stel­lung» und «Reli­gions­frei­heit» geschrieben sind, ste­ht,

während ein pol­nis­ch­er Lei­har­beit­er in ein­er Kan­tine in Man­ches­ter davon träumt, sich in einen Robot­er zu ver­wan­deln, um nicht von einem solchen erset­zt zu wer­den,

während in Stock­holm eine Frau, ihr schlafend­es Baby auf dem Arm, einen neg­a­tiv­en Asylbescheid erhält,

während in einem Hochhaus in Frank­furt ein Jour­nal­ist mit geweit­eten Pupillen vor einem anderen den Neolib­er­al­is­mus mit den Worten «noch nie ging es uns so gut wie heute» vertei­digt,

während fünf Hochhäuser weit­er ein paar mit Mil­lio­nen­boni aus­ges­tat­tete Banker gemein­sam mit ein­er renom­mierten Agen­tur die näch­ste Kam­pagne zur Bankret­tung auf Kosten der Steuerzahler ausheck­en,

während in Warschau ein alte Frau einem Poké­mon-Go-Spiel­er über die Strasse hil­ft, da es diesem nicht mehr möglich ist, vom Dis­play aufzuse­hen,

während in einem Landgasthof im Thur­gau der Mil­liardär Christoph Blocher vor fünfhun­dert Men­schen tritt und «wir sind das Volk» sagt,

während in ein­er Yogak­lasse in Rom ein Staubkörnchen ins Auge der Kurslei­t­erin fliegt,

während zwei Kinder in einem Park in Brüs­sel auf ein­er Bank sitzend über ihre Lieblings­fuss­baller fach­sim­peln,

während in New York Trumps Assis­tentin aus dem Inter­net die Präsi­dentschafts-Antrittsrede für ihren Chef abschreibt,

während in einem Hin­terz­im­mer in Genf Chi­na und Katar den Bau ein­er neuen Öl-Pipeline, weg von Europa, beschliessen,

während in ein­er Airbnb-Woh­nung in Rio de Janeiro ein Selb­st­mor­dan­schlag auf die Schlussfeier der Olymp­is­chen geplant wird,

während in Süd­su­dan in einem Lager abseits der hys­ter­isierten Weltöf­fentlichkeit ein hun­griges Kind seine let­zten Atemzüge macht,

während in einem Flüchtlingslager in Griechen­land ein Poli­tik­er ein Baby in die Kam­eras hält, bevor er zurück in die Lob­by eines Fün­f­stern-Hotel gefahren wird, wo er während eines Inter­views ohne Scham zehn­mal das Wort «Empathie» in den Mund nimmt,

während in der Schweiz ein Schrift­steller in einem Strassen­café, ein Caf­fè fred­do in der Hand, über die gewaltige Unschärfe des Begriffs «Wir» nach­denkt und sich doch vorstellt, dass es eigentlich genau jet­zt an der Zeit wäre eine wirk­liche, eine demokratis­che, eine sol­i­darische, eine starke Europäis­che Union zu grün­den, und seine Noti­zen mit den Worten «Tote Utopie!» durch­stre­icht.

Er fächert sich mit ein­er Zeitung frische Luft zu, während er in sein Notizbüch­lein schreibt: «Und so geht das Gewurs­tel weit­er, bis es nicht mehr geht. Die Men­schheit, das erfol­gre­ich­ste gescheit­erte Pro­jekt aller Zeit­en.»

Eine Tram biegt um die Kurve, ein paar Kinder spritzen sich lachend mit Wasser­pis­tolen an und der Schrift­steller lässt, geis­tesab­we­send, einen Eiswür­fel in sein­er Hand schmelzen.

Er beobachtet wie das Wass­er auf sein­er Hose trock­net und fragt sich, ob das der Trost ist, der bleibt, während im Him­mel über ihm ein Pas­sagier­flugzeug nach Europa fliegt.

 

Jürg Hal­ter, geb. 1980 in Bern, wo er meis­ten lebt. Schrift­steller, Per­former und Musik­er. Auftritte in ganz Europa, in Afri­ka, Rus­s­land, den U.S.A. und in Japan. Zahlre­iche Veröf­fentlichun­gen. Im August erscheint Das 48-Stun­den-Gedicht (Wall­stein) mit Tanikawa Shuntaro, am 10. Sep­tem­ber feiert sein erstes The­ater­stück, Mond­kreis­läufer am Konz­ert The­ater Bern Pre­miere.

Der Text wurde uns unent­geltlich vom Net­zw­erk »Kunst+Politik« zur Ver­fü­gung gestellt. Alle Texte zum The­ma »Nach Europa« sind hier zu find­en. Das Titel­bild ist von Rue­di Wid­mer.

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