„Urteil und Will­kür set­zen Sinn und Trieb unter sich, so wie Ver­nunft und Wil­le über sich vor­aus und hän­gen so als Ver­stand und Vor­satz mit dem über sie erha­be­nen Gedächt­nis und Gewis­sen, und dem ihnen unter­wor­fe­nen Vor­stel­lungs­ver­mö­gen und Begeh­rungs­ver­mö­gen innig zusammen.“

Ver­stan­den? — Na ja, ich auch nicht … Die­ser klei­ne Aus­zug macht deut­lich, dass es nicht ganz ein­fach ist, sich in das Grund­la­gen­werk Trox­lers „Bli­cke in das Wesen des Men­schen“ ein­zu­ar­bei­ten. Das ging übri­gens schon vie­len sei­ner Zeit­ge­nos­sen so, zum Bei­spiel J.W. von Goe­the, der damals urteil­te: „Es (das Werk) hat sehr schö­ne, lobens­wür­di­ge, licht­vol­le bril­lan­te Par­tien, aber auch so viel Hia­tus, Unzu­läng­lich­kei­ten und Falsch­hei­ten, die sich mit Bom­bast umwölken …“

Die­se „licht­vol­len bril­lan­ten Par­tien“ sind auch heu­te noch — oder gera­de wie­der heu­te — höchst lesens- und beden­kens­wert, und sie machen deut­lich, dass Trox­ler auch als Phi­lo­soph ein tief in das „Geheim­nis Mensch“ bli­cken­der Visio­när war.

Im Fol­gen­den gehe ich ein­fach schlag­wort­ar­tig auf drei Aspek­te sei­ner Erkennt­nis­se ein:

1. Das Wesen des Men­schen erklärt sich nicht allein aus einer rein che­misch-phy­si­ka­li­schen Per­spek­ti­ve. Er ist ein leib-see­li­sches Wesen mit einem unsterb­li­chen geis­ti­gen Wesenskern:

„Durch Geist will ich die geheim­nis­vol­le und wun­der­ba­re, dem Men­schen selbst noch ver­bor­ge­ne Tie­fe des Men­schen, die Ursa­che und den End­zweck sei­nes eige­nen Wesens, den Ursprung und den Abgrund sei­ner Gat­tung und aller Per­sön­lich­keit bezeich­net wis­sen.“ Noch 1833 hielt er in einem Brief fest: “Mei­ne Anthro­po­lo­gie, mei­nes Lebens Werk, wird sich durch die Leh­re von der Unsterb­lich­keit aus­zeich­nen; das weiss ich.”

2. Die­se inne­re Erfah­rung ver­such­te Trox­ler, mit dem Sym­bol der sog. Tetrak­tys** zu ver­deut­li­chen: 
Erst wenn alle vier Aspek­te voll aus­ge­bil­det und har­mo­nisch im „Gemüt“ zusam­men­spie­len, wird der Mensch „wahr­haf­tig Mensch“ und kann kraft­voll und frei sei­ner inne­ren Bestim­mung folgen.
„Das Gemüt ist die wah­re Indi­vi­dua­li­tät des Men­schen, ver­mö­ge wel­cher er am eigent­lichs­ten in sich selbst ist; der Herd sei­ner Selbst­heit, sei­nes Daseins leb­haf­tes­ter Mittelpunkt.
Im Gemü­te lebt der Mensch sein voll­kom­mens­tes und umfas­sends­tes Leben, … Das Gemüt allein, nichts als das Gemüt, löst die Wider­sprü­che, die ein Ueber­ir­di­sches und ein Irdi­sches unter sich zu haben schei­nen; Räum­li­ches und Oert­li­ches, Ewi­ges und Zeit­li­ches haben sich in ihm ver­gli­chen und ver­schmol­zen, es offen­bart das Leben in sei­ner Unsterblich-sterblichkeit.“

3. Es ist die Auf­ga­be des Men­schen, ganz im Sin­ne des del­phi­schen „Gno­thi Seau­ton“ sich selbst zu erken­nen. Ohne sol­che Selbst­er­kennt­nis gewinnt der Mensch nur ein ver­kehr­tes Bild von sich und ein gebro­che­nes Bild von der Welt. 
„Selbst­be­trach­tung ist wohl des Lebens höchs­ter Genüs­se einer, und das Ziel der Zurück­wen­dung jeder edeln Natur auf sich: Selbst­er­grün­dung. Ken­ne dich selbst, ist nicht bloss eine wei­se Auf­schrift eines gött­li­chen Tem­pels der Vor­welt, son­dern eine leben­dig sich anru­fen­de Stim­me jeder mensch­li­chen Brust;- dem einen ein lei­ses Wehen aus ver­bor­ge­ner Tie­fe, dem andern ein lau­tes Toben von aus­sen, das er aber kaum versteht.“

Für Trox­ler war es klar, dass wah­re Phi­lo­so­phie nur aus direk­ter und genui­ner inne­rer Erfah­rung erwach­sen kann: „Frei­lich füh­le ich, dass von der Phi­lo­so­phie und von der See­le reden, ehe der Mensch sich selbst durch­drun­gen — die Wan­de­rung eines Blin­den ist …“. Und die­se Erfah­run­gen ver­wei­sen auf inne­re see­lisch-geis­ti­ge Dimen­sio­nen jen­seits des ober­fläch­li­chen Tages­be­wusst­seins. Es ver­wun­dert des­halb nicht, dass er sich sein gan­zes Leben lang mit den Phä­no­me­nen des Traums, des Som­nam­bu­lis­mus und der Para­psy­cho­lo­gie auseinandersetzte.

Trox­ler tön­te vie­les an, das erst wie­der in der moder­nen Neu­ro- und Tie­fen­psy­cho­lo­gie auf­ge­grif­fen und unter­sucht wur­de. So spielt auch bei C.G. Jung die Tetrak­tys eine gros­se Rol­le, genau­so wie beim Neo-Jun­gia­ner Robert Moo­re mit sei­ner Tetrak­tys der männ­li­chen Psy­che „King, War­ri­or, Magi­ci­an, Lover“. Unüber­seh­bar ist auch die Par­al­le­le zwi­schen dem „Gemüt“ Trox­lers und dem Begriff des „Selbst“ bei Jung, das sich im Pro­zess der Indi­vi­dua­ti­on als der urei­gens­te Wesens­kern jedes Men­schen ver­wirk­licht. Genau das mein­te auch Trox­ler, wenn er sag­te, dass der Mensch sich erst in der rech­ten Selbst­er­kennt­nis erschaffe.

Und noch eine inter­es­san­te Par­al­le­le: An einer Stel­le ver­weist Trox­ler auf „das Ensoph der Kab­ba­lis­ten“, und macht damit deut­lich, dass er — wahr­schein­lich über die christ­lich-kab­ba­lis­ti­sche Tra­di­ti­on des gros­sen Mys­ti­kers Jakob Böh­me und sei­ner Schü­ler im 18. Jahr­hun­dert — Bescheid über ein zen­tra­les Axi­om der Kab­ba­la wusste:
näm­lich, dass sich die Schöp­fung aus einem Punkt jen­seits allen Seins/Nichtseins — eben das En Soph — im Lebens­baum mit sei­nen drei nicht-mate­ri­el­len „Wel­ten“ bis zur vier­ten mate­ri­el­len Welt, dem sicht­ba­ren Uni­ver­sum, ent­fal­tet, — also auch hier wie­der die „Vier­heit“.

** Der Begriff der Tetrak­tys stammt aus der pytha­go­räi­schen Schu­le und bezeich­ne­te die Gesamt­heit der Zah­len 1 bis 4, deren Sum­me 10 ergibt.

Schlies­sen wir die­sen klei­nen, hof­fent­lich nicht all­zu unver­ständ­li­chen Aus­flug zum Phi­lo­so­phen Trox­ler mit einem sei­ner Apho­ris­men, der sei­ne tiefs­te Über­zeu­gung, was der Mensch sei, wun­der­schön zusammenfasst:
Das größ­te und mira­ku­lö­ses­te Mys­te­ri­um der mensch­li­chen Natur ist die selbst­be­wuss­te frei­ge­will­te Per­sön­lich­keit, die indi­vi­du­ell und immor­tell ist.

In der nächs­ten Fol­ge keh­ren wir zurück zum  enga­gier­ten Poli­ti­ker und Arzt, — ein Arzt aller­dings, der eines Tages ver­zwei­felt das Hand­tuch warf …

An ande­ren Seri­en interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hei­ner Koech­lin / Simo­ne Weil / Gus­tav Mey­rink / Nar­ren­ge­schich­ten / Bede Grif­fiths / Graf Cagli­os­tro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­wo­che und Donald Trump / Die Welt­wo­che und der Kli­ma­wan­del / Die Welt­wo­che und der lie­be Gott /Leben­di­ge Birs / Aus mei­ner Foto­kü­che / Die Schweiz in Euro­pa /Die Reichs­idee /Voge­sen / Aus mei­ner Bücher­kis­te / Ralph Wal­do Emerson

Damals wie heute ...
Die Weltwoche und Wilhelm Tell

Deine Meinung

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.