Auf den Einsatz des einzelnen zu sich selbst gekommenen, auf sich selbst gestellten Menschen, der als der Mensch, der er und nur er ist, auf Gedeih und Verderb, auf Leben und Tod die heilige Verpflichtung der Vorzeit besiegelnd, es wagt, in allen Dingen und Belangen des Menschen sein eigener Kaiser und Papst zu sein, auf diesen Einsatz allein ist heute und hinfort der Bund gestellt in Zeit und Ewigkeit.
Wenn also der einzelne Schweizer, zum “Tellen” werdend, durch die stille und offene Tat wahr macht das Wort:
“Würde der Bund auch tausendmal im Schweizerland geboren,
Und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren” -,
dann wird die Eidgenossenschaft leben als ein ewig Fortwirkendes in der Welt, selbst wenn die Schweiz je auf dem Kartenbild Europas ausgelöscht werden sollte.
Tell und Winkelried sind nicht nur die Gründer und Retter der Schweiz gewesen, sie sind Wächter und Hüter der Menschheit.
Mit diesen Worten schliesst Conrad Englert-Faye sein Werk “Vom Mythus zur Idee der Schweiz”. Ein oberflächliches Lesen dieser Zeilen könnte den Eindruck erwecken, es könnte sich bei diesem Autor um einen weiteren Hurra-Patrioten à la SVP handeln. Ein erneutes Lesen lässt aber eine Interpretation der Schweizer Geschichte spürbar werden, die man weder bei der SVP noch in der aktuellen Forschung findet.
Ist Englert-Faye als Historiker ernst zu nehmen? Dass die Quellenangaben und Literaturnachweise seines fast 900 Seiten umfassenden Werkes über 800 Positionen umfassen, macht deutlich, dass es sich durchaus lohnen könnte, dieser Frage nachzugehen.
Wer war Conrad Englert-Faye? — Das Historische Lexikon der Schweiz klärt uns kurz und knapp auf:
*30.3.1899 Markdorf (Württemberg), 1.12.1945 Oslo, von Basel. Sohn des Theodor Joseph, Ingenieurs. 1923 Anna Elisabeth Faye, Malerin, aus Bergen (Norwegen). Kindheit u.a. in Samedan, Stud. der klass. Philologie und Geschichte an der Univ. Basel. 1921 Gymnasiallehrer, Reise nach Italien, Privatlehrer in Norwegen. Bereits im Elternhaus mit der Anthroposophie vertraut, begründete E. 1927 die Rudolf-Steiner-Schule Zürich, an der er auch unterrichtete, und gab die Zeitschrift “Die Menschenschule” heraus. Ab 1937 war er — unter dem Namen Conrad E. — als Schriftsteller, Vortragsredner und Generalsekretär der Anthroposoph. Gesellschaft in Norwegen tätig. Versch. Publikationen, 1940 das Hauptwerk “Vom Mythus zur Idee der Schweiz”, 1941 die “Alpensagen”.
Wenn man die inzwischen etwas abgedroschene und besonders von Theologen gerne bemühte Frage nach “dem Sitz im Leben” einer Quelle stellt, könnte man aufgrund der Jahreszahl der Publikation vermuten, der Autor habe sich in die Reihe jener Schriftsteller gestellt, die angesichts der ideologischen Gefahr durch den Nationalsozialismus etwas zur geistigen Landesverteidigung beitragen wollten.
Doch schon ein kurzer Blick in sein Werk macht deutlich, dass seine Intentionen sehr viel tiefer gehen. Auch er setzt sich wie Guy Marchand in dessen Buch “Schweizer Gebrauchsgeschichte” mit dem reichhaltigen Quellenmaterial zur Frage auseinander, wie sich die Eidgenossen über die Jahrhunderte hinweg selber sahen. Aber im Gegensatz zu Marchand kommt er zum Schluss, dass am Anfang jenes Gebildes, aus dem sich Schritt um Schritt die Schweizerische Eidgenossenschaft herausbilden sollte, ein spiritueller Impuls steht, — ein Impuls, der im Laufe der Geschichte mehrfach Gefahr lief, ausgelöscht zu werden, der aber — nicht nur, aber auch dank dem Leben herausragender Gestalten, allen voran Niklaus von Flüe — immer wieder zu neuem Leben erwachte.
Es ist kein Zufall, dass sich Englert-Faye in seinem Werk regelmässig auf Ignaz Paul Vital Troxler, den eigentlichen “Vater” der Bundesverfassung von 1848 bezieht. Er stellt dem zweiten Kapitel dessen Ausspruch “Wie es eine verborgene Menschennatur gibt, So gibt es auch eine geheime Geschichte” voran, und illustriert, was darunter zu verstehen sei, mit der Lebensgeschichte des Waadtländer Majors Jean Daniel Abraham Davel. Wir werden dessen Schicksal ab morgen in drei Folgen kennenlernen und uns dann der Frage zuwenden, wie der Autor die klassische Gründungsgeschichte mit dem Bundesbrief von 1291 interpretiert.
Dies wie immer am kommenden Donnerstag, den 29. Juli.
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