Dank seinem jahrzehntelangen Aufenthalt in Indien gelang es Griffiths, tief in die Kosmologie des Hinduismus einzutauchen, wie sie sich in den Veden, den Upanishaden, der Bhagavad Gita und des Tantra offenbart hat. In seinem Buch “A New Reality” zeichnet er die Entwicklung der hinduistischen Strömungen bis hin zu den tiefsten spirituellen Einsichten nach, und er verknüpft sie dank seiner breiten Bildung mit Erkenntnissen der griechischen Philosophen und christlichen Theologen wie Thomas von Aquin.
In seinen Ausführungen zu den Upanishaden hält er z.B. fest:
Hier “kam die Entdeckung, dass brahman (des Urgrunds, aus dem die Schöpfung fliesst), diese Realität außerhalb, eins ist mit dem eigenen inneren Bewusstsein. Dies ist das Erwachen des inneren Selbst zum ersten Mal. Zuvor hatte der Mensch im äußeren Universum gelebt und Gott brahman, die Realität, in diesem äußeren Universum erfahren, aber nicht in sich selbst. Nun entdeckte der Mensch sich selbst. Das Wort für Selbst ist atman, also heißt es jetzt, ayam atman brahmanasti, “Dieses Selbst ist Brahman”, was bedeutet, dass dieses Selbst, das ich in mir erkenne, eins mit brahman ist, eins mit der Realität des Universums außerhalb von mir. Der dritte große Spruch oder mahavakya ist, aham brahmasmi, “Ich bin Brahman”. Das bedeutet, dass ich, wenn ich in die Tiefe meines Wesens gehe, jenseits meines Körpers, jenseits meiner Gedanken und Gefühle, das “Ich”, den Atman, entdecke und dieses Brahman in mir selbst, als mein wahres Wesen, erkenne.”
Der Vergleich zur Aussage des Gottes der drei Buchreligionen im brennenden Dornbusch “Ehje asher ehje”, “Ich bin, der ich bin” oder “Ich werde sein, der ich sein werde” oder zum Ausspruch Jeshuas: “Das Königreich ist inwendig in euch” (Lk 7,20–21) drängt sich geradezu auf.
Genau so klar schildert Griffiths die Entwicklung des althebräischen Gottesbildes aus einem Donner-Stammesgott hin zum “Schöpfer des Himmels und der Erde”. Es ist hier natürlich nicht möglich, die komplexe Entwicklungsgeschichte aufzurollen.
Aber Griffiths weist mit Recht darauf hin, dass sich im Alten Testament schon früh patriarchalische Tendenzen eingeschlichen haben:
“… während wir bei den Propheten Israels diesen Sinn für die Verbundenheit von Gott und Mensch mit der Erde und der Tierwelt erkennen, müssen wir auch erkennen, dass die gegenteilige Tendenz immer vorhanden war. … Es gibt in der gesamten Geschichte Israels ein Element der Gewalt und der Herrschaft, das ein schreckliches Erbe für die Menschheit darstellt. Die Israeliten waren ein patriarchalisches Volk, und ihr Gott wurde immer in maskulinen Begriffen konzipiert, während die Götter der umliegenden Völker mit ihrer Anbetung der Erdmutter völlig abgelehnt wurden …
Der Psalmist hört nie auf, seinen Hass auf seine Feinde zu verkünden und Gott zu bitten, sie zu vernichten. Wenn persönliche oder rassische Feinde dort als Feinde Gottes gesehen werden, gibt es keine Grenze für die Gewalt und den Hass, den sie hervorrufen. Leider ist dieser Geist in alle semitischen Religionen eingedrungen und hat eine schreckliche Bilanz von Krieg und Gewalt hinterlassen. .. Er führte zu Inquisition, Kreuzzügen und Religionskriegen. Es wäre schwer zu sagen, wie viel von der Gewalt der westlichen Welt heute mit ihrer Entweihung der Erde und ihrer Bedrohung durch einen Atomkrieg nicht aus dieser ursprünglichen Tradition der biblischen Religion stammt.”
Harte Worte! Was Griffiths offensichtlich völlig unbekannt war, ist die Tatsache, dass im ersten Tempel in Jerusalem neben dem Vatergott auch eine Muttergöttin verehrt wurde. Raphael Patai hat dies in seinem Buch “The Hebrew Goddess” zum ersten Mal nachgewiesen, und seine Erkenntnis wurde inzwischen auch archäologisch bestätigt. Dieses Gleichgewicht — und damit Gleichberechtigung — zwischen dem väterlichen und mütterlichen Aspekt Gottes ist in der jüdischen Tradition nirgends so klar erkannt wie in der Kabbalah, insbesondere in der Glyphe des Lebensbaums, wo sich das männliche und weibliche Prinzip ergänzen und die Waage halten und so überhaupt Schöpfung erst ermöglichen.
Ein fundamentaler Unterschied zwischen der hinduistischen und der hebräischen Kosmologie liegt im Verständnis der Zeit. Während im Hinduismus ein zyklisches Zeitverständnis vorherrscht, wandelte es sich im Westen in ein teleologisches Konzept, an dessen Anfang ein “Sündenfall” der Menschheit steht, dem aber schon ein “Fall der Engel” vorausgegangen war.
Griffiths:
“Aber da war schon eine Macht des Bösen, der Disharmonie, da war die Schlange “schlauer als alle Tiere des Feldes ” und ging dazu über, das Menschenpaar zu verführen. Dabei sind zwei Dinge zu beachten. Das erste ist, dass in der alten Welt, wie bei den amerikanischen Indianern heute, Tiere als Teile des kosmischen Ganzen aufgefasst wurden, in dem Bäume und Tiere und Menschen alle den kosmischen Mächten, den Göttern und Engeln, und dem höchsten Geist, der alle Dinge durchdringt, unterworfen waren.
Die zweite ist, dass das, was wir als subjektive Phänomene betrachten würden, Erfahrungen des inneren Selbst, damals als objektive Realitäten erlebt wurden. Götter und Engel und alle Arten von Geistern und der Herrgott selbst, wurden alle als objektive Wesen konzipiert. Paradoxerweise wurde das, was wir für objektiv halten, die phänomenale Welt “außerhalb” von uns, als ein spirituelles Phänomen, ein psychisches Ereignis, aufgefasst, und das, was wir für subjektiv halten, unsere Gedanken und Gefühle, als objektive Realitäten. Das liegt natürlich einfach an der unterschiedlichen Funktionsweise des menschlichen Verstandes, wobei die Realität selbst immer außerhalb der Sphäre der Dualitäten liegt.
Die Schlange war ein Symbol für das kosmische Böse, die zersetzende Kraft im Universum, die Quelle aller Dualitäten. Dies wurde in Israel als das Ergebnis des “Sündenfalls der Engel” verstanden. Ein Engel oder ein Gott ist eine Reflexion in der Sphäre der Vielheit des einen höchsten Geistes, und wenn der Engel oder der Gott in der Harmonie des Geistes bleibt, wird er zu einer schöpferischen Kraft im Universum. Aber wenn der Gott oder Engel sich auf sich selbst konzentriert und zu einer separaten Kraft wird und als solche verehrt wird, wird er zu einer Kraft der Zerstörung, der Auflösung.
Dieser “Fall der Engel” wurde als die ursprüngliche Quelle des Konflikts im Universum angesehen, all dieser Kräfte der Desintegration, die die Ordnung der Schöpfung stören. Damit dies aber im Menschen wirksam werden konnte, bedurfte es einer Zustimmung des Willens. Der “Sündenfall” des Menschen folgt auf den Sündenfall der Engel, wenn der Mensch von der Führung durch den göttlichen Geist in ihm abfällt, sich von niederen Geistern verführen lässt und in seinem Ego versinkt.
Dies ist das Wesen der Sünde und des Bösen: Das Herausfallen aus der Einheit des Geistes, des alles durchdringenden “Wortes”, Lichtes und Lebens, das der Grund des Universums ist, und der Zentrierung auf das getrennte Selbst, den Ego-Verstand, ahankara — den Ich-Macher -, der die Menschheit in Konflikt mit der Natur, mit sich selbst und mit dem Grund und der Quelle von allem bringt.
Dies ist also das gefallene Universum, in das wir alle hineingeboren werden. Und wir müssen erkennen, dass durch die menschliche Zusammenarbeit mit den Kräften der Zerstörung im Universum die Zerstörung des Planeten droht, auf dem wir leben.
Zu harte Worte?
Und was hat es mit den Engeln auf sich? Die Zeiten von Dyonisius von Aeropagita sind doch schon lange vorbei. Heute ist es vielleicht noch das Thema einiger “New Age”- Freaks … Oder vielleicht doch nicht: Vor ein paar Jahren hat Matthew Fox, ein höchst progressiver Theologe, zusammen mit Rupert Sheldrake, dem Entdecker der morphogenetischen Felder und gute Freund von Griffiths, ein interessantes Buch geschrieben: The Physics of Angels. Das Thema scheint wieder aktuell zu werden.
In der kommenden Folge beschäftigen wir uns mit den Gedanken Griffiths, wie wir aus diesem gefallenen Universum wieder herauskommen, und dies wie immer
am kommenden Freitag, den 11. Juni
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