Nachdem wir uns in der letzten Folge in einem kleinen Exkurs mit Wilhelm Reich und seiner Suche nach einer universellen Lebensenergie auseinandergesetzt haben, kehren wir zu Griffiths und seinem Buch “A New Reality” zurück.
Der grösste Teil der Menschheit lebt heute in einem mentalen, rationalen Bewusstseinszustand. Seit Freud, Jung und ihren Nachfolgern wissen wir um das Unbewusste in uns, das vom persönlichen bis zum kollektiven Unbewussten reicht. Es steuert unser Leben oft stärker, als uns lieb ist.
Langsam verankert sich im öffentlichen Bewusstsein inzwischen aber auch die Tatsache, dass es Ebenen gibt, die über das normale “Tagesbewusstsein” hinausreichen. Pioniere wie William James (The variety of religious experience) oder Richard M. Bucke (Cosmic Consciousness. A Study in the Evolution of the Human Mind) schlugen mit ihren Werken schon zur Wende vom 19. zum 20. Jhdt. eine Bresche in das materialistische Weltbild des Westens.
Inzwischen haben die neuen Pioniere des integralen Bewusstseins wie Jean Gebser und Ken Wilber eine eigentliche Landkarte der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins erstellt. Ausgehend vom uroborischen oder ozeanischen Bewusstsein in grauer Vorzeit, gefolgt vom magischen und mythischen Bewusstsein, das noch im Mittelalter im Westen dominierend war, entwickelte sich Schritt um Schritt die mentale Bewusstseinsstufe.
Je nach Bewusstseinsstufe erlebte der Mensch sich selber, die Natur, Raum und Zeit höchst unterschiedlich. Die Vorstellung einer linearen im Gegensatz zu einer zyklischen Zeit entwickelte sich zum Beispiel erst in der althebräischen Kultur.
Bede Griffiths: Es ist die Ansicht von Wilber und anderen, dass es sozusagen ein Spektrum von Bewusstseinsebenen gibt, vom grundlegenden ozeanischen Bewusstsein über alle Ebenen bis hin zum höchsten Bewusstsein. Die Ebenen sind hierarchisch so aufgebaut, dass die niedrigeren Ebenen mit den höheren integriert sind. An jedem Punkt der Transzendenz muss es eine Abgrenzung von der vorherigen Ebene und eine Integration derselben geben.
Wenn man sich also auf der Ebene des mentalen Bewusstseins von der Ebene der Vorstellung differenziert und sich der Welt der Konzepte, der Logik, der Vernunft, der Wissenschaft und der Philosophie öffnet, dann muss man die vorherige Ebene der Vorstellung und der Sinne integrieren. Man sollte die anderen Ebenen nicht ablehnen und sie auch nicht zurücklassen. …
Mit der Transzendenz wächst die Freiheit, aber es besteht auch die Notwendigkeit, das frühere Bewusstsein zu integrieren, und gerade bei dem Prozess der Integration entsteht das Problem. Allzu oft scheitert die Integration. Wir erleben das heute besonders auf unserer normalen mentalen Bewusstseinsebene.
Es ist tatsächlich so: Auf unserer “normalen mentalen Bewusstseinsebene” ist der Zugang zu den früheren Ebenen — ausser in der Traumwelt — mehrheitlich verloren gegangen. Was also tun?
Eine blosse Rückkehr zu früheren Ebenen hätte einen regressiven Charakter und wäre mit der Bewusstseinsentwicklung unvereinbar. Aber Griffiths warnt gleichzeitig davor, dass eine fehlende Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, die wir auf früheren Ebenen mit bestimmten kosmischen Kräften gemacht haben, die Menschheit in grösste Schwierigkeiten bringen wird.
Er führt als Illustration dazu das Schamanentum an: Schamanen auf der ganzen Welt, die auf der magischen Ebene operieren, hatten (und haben) Zugang zu Wirklichkeiten, die jenseits der materiellen Welt liegen, die aber genauso real sind. Ein eindrückliches Beispiel dafür sind die Bücher der amerikanischen Ethnologen Carlos Castaneda (Die Lehren des Don Juan) oder Michael Harner. (Cave and Cosmos. Encounter with another reality)
Griffiths nennt die der materiellen Welt nächstliegende Ebene “psychisch” und hält fest:
… wir müssen uns immer daran erinnern, dass es auf der psychischen Ebene sowohl gute als auch böse Kräfte gibt. So wie es auf der physischen Ebene Gewalt und Zerstörung gibt, so gibt es auch auf der psychischen Ebene Kräfte der Gewalt und Zerstörung. Die Götter und Engel sind Symbole für kosmische Mächte, die durch das ganze Universum und durch die menschliche Geschichte wirken. Dies sind die “Fürstentümer und Mächte in der Höhe”, von denen der heilige Paulus spricht.
Wenn diese Kräfte der Höchsten Macht unterworfen sind, wirken sie als schöpferische Kräfte in der Natur und in der Geschichte. Aber wenn sie vom Höchsten getrennt werden und unabhängig handeln, werden sie dämonisch und zerstörerisch. … Es ist immer durch die Ablehnung des Höchsten Wesens, der letzten Wahrheit, dass der Mensch dämonischen Kräften unterworfen wird. In der Neuzeit können Hitler und Stalin als Instrumente dieser dämonischen Kräfte gesehen werden.
Dies war also die Welt der Götter und der Engel, die zum Höchsten Gott hinaufführte, und die Aufgabe aller Propheten war es, die Autorität des Höchsten Wesens über alle anderen Götter zu behaupten.
In philosophischer Hinsicht wurden diese psychischen Kräfte als die Welt der Ideen aufgefasst. Plato zum Beispiel vertrat die Ansicht, dass, während Materie und Formen zusammen die physische Welt strukturieren, die Quelle der Form das ist, was er als die Ideen bezeichnete, und sie sind ewig. Die ewigen Ideen aller Dinge existieren in der ewigen Welt und spiegeln sich in dieser Welt, in unserer menschlichen Erfahrung und in der physischen Welt um uns herum wider.
Plotinus, im Neuplatonismus des dritten Jahrhunderts n. Chr., entwickelte Platons philosophisches Verständnis weiter und spricht hier von zwei Ebenen, der Weltseele und dem Nous. Die Weltseele ist die Kraft, die das Universum ins Leben ruft und erhält, und sie steht zwischen dem Nous und der physischen Welt. Im Nous existieren die Formen aller Dinge ewig, bevor sie sich in der zeitlichen Welt durch die Weltseele in den Formen der Natur und des Menschen manifestieren.
Sowohl im Hinduismus, Buddhismus und Taoismus ist das Wissen um diese psychische und die darüber liegende spirituelle Welt noch lebendig. Im Judentum hat sie sich in der kabbalistischen Tradition, im Islam im Sufismus erhalten. Im Christentum hingegen finden wir sie nur noch als Randphänomen: im Altertum in bestimmten gnostischen Bewegungen, im Mittelalter in “häretischen” Bewegungen und bei Mystikern wie Meister Eckhart oder Hildegard von Bingen, in der frühen Neuzeit bei Jakob Böhme, Louis-Claude de Saint Martin oder Emmanuel Swedenborg, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Bede Griffiths war gegenüber den östlichen Religionen, dem Hinduismus, Buddhismus und Taoismus, von tiefster Achtung erfüllt und sah sie als ebenbürtige Wege hin zu einer wahrhaftigen Gotteserfahrung. Aber er blieb als Mystiker auch der christlichen Botschaft treu.
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am kommenden Freitag, den 4. Juni
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