Im letzten Beitrag findet sich ein Auszug aus dem Griffiths’ Buch “The Marriage of East and West”. Es lohnt sich, den Text nicht nur einmal zu lesen, um zu begreifen, wie revolutionär die Aussagen darin tatsächlich sind. Griffiths räumt radikal mit sektiererischen religiösen Überzeugungen auf, insbesondere auch, was den Alleinvertretungsanspruch des Christentums auf die letzten Wahrheiten betrifft.
Genau so klar analysiert er in “A New Vision of Reality” den Weg, den die westliche Welt nach der Trennung von Wissenschaft und Religion in der Renaissance genommen hat:
Bis zum sechzehnten Jahrhundert gab es eine universelle Philosophie nicht nur in Europa, sondern in der gesamten zivilisierten Welt. Diese wird im Westen gewöhnlich als “die immerwährende Philosophie” (perennial philosophy) bezeichnet. Sie fand sich in China in der Entwicklung des Taoismus und des Konfuzianismus … ; in Indien in der Entwicklung des Vedanta; im übrigen Asien im Mahayana-Buddhismus; im Islam sowohl in der philosophischen Entwicklung des Islam als auch im Sufismus; und schließlich in Europa in der gesamten Entwicklung des mittelalterlichen Christentums.
Diese universelle Weisheit herrschte von etwa AD 500 bis etwa AD 1500 und ist Teil unseres Erbes. … Was die universelle Weisheit auszeichnete, war ihr Verständnis, dass die materielle Welt von einer transzendenten Realität durchdrungen ist und ihre Erklärung in ihr findet.
Aus verschiedenen komplexen Gründen begann diese Philosophie im Europa des sechzehnten Jahrhunderts allmählich unterminiert zu werden. Zu diesem Zeitpunkt fanden weitreichende Entwicklungen statt und die neue materialistische Philosophie begann zu entstehen, die im neunzehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Der Materialismus ist zu einem Hauptbestandteil unseres Erbes geworden, und alle unsere Einstellungen zum Leben werden, zumindest teilweise und sehr oft unbewusst, von einer materialistischen Sicht der Wirklichkeit bestimmt. (Hervorhebungen von mir).
Hier ein paar wenige Stichworte, wie es in Europa zu dieser materialistischen Philosophie kam.
■ Am Anfang steht René Descartes. Er war der erste, der eine vollständige Trennung zwischen Geist und Materie postulierte.
■ Francis Bacon war einer der ersten, der erklärte, dass das Ziel der Wissenschaft nicht einfach darin besteht, das Universum zu verstehen, sondern es zu kontrollieren. Das bedeutete, mathematische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu nutzen, um die Natur zu verändern und die Materie zu beherrschen. Die gesamte moderne Technologie ist eine Folge dieser Idee.
■ Galileo Galilei, der grosse Astronom, der auch Mathematiker und Wissenschaftsphilosoph war, vertrat die Ansicht, dass die Materie selbst nur in ihrem quantitativen Aspekt untersucht werden müsse. Das einzig wahre Wissen war, was gemessen und mathematisch verstanden werden konnte. Alle Sinnesqualitäten, Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen und noch mehr, alle emotionalen Aspekte des Lebens, alle Kunst, Moral und Religion, wurden jetzt als rein subjektiv betrachtet.
■ Dann kam Isaac Newton. Er dehnte die Materie im Raum aus, und die Realität bestand aus konkreten Objekten, die sich in Raum und Zeit bewegten. Die Messung von Masse, Bewegung und anderen Eigenschaften sowie deren Zusammenhänge lieferten das Modell des Universums für die folgenden Jahrhunderte.
Doch das christliche Weltbild, wie es von den Kirchen gelehrt wurde, blieb noch unangetastet. Für Descartes war Gott die höchste Realität, die den Geist des Wissenschaftlers erleuchtete und ihn befähigte, das materielle Universum zu erklären. Auch die Vision Newtons — der sich genau so intensiv mit Alchemie und Astrologie beschäftigte — blieb zutiefst religiös. Er glaubte, dass es Gott war, der das Universum erschaffen hatte und dass Gott es weiterhin durchdringt. Es war die Gegenwart Gottes, die Raum und Zeit konstituierte und die die Bewegungen der materiellen Objekte ordnete.
Im 18. Jahrhundert wurde das Newtonsche System nicht nur in der Physik akzeptiert, sondern wurde zum Standard für die Wissenschaft im Allgemeinen. Weil die Methode der Newtonschen Mechanik so erfolgreich war und so beeindruckende Ergebnisse lieferte, wurde sie in die Metaphysik extrapoliert. Es wurde philosophisch angenommen, dass die Newtonsche Physik nicht nur ein vollständiges Bild der Realität, sondern das einzige Bild der Realität lieferte.
■
Schliesslich kamen Charles Darwin und Ernst Haeckel, und damit war definitiv Schluss mit einem Gott, der die Welt in sieben Tagen erschuf. Der Mensch war lediglich das Produkt eines langen natürlichen Evolutionsprozesses, der durch Mutation und Selektion gesteuert wird.
Ein durchgängiger Materialismus in Verbindung mit mechanistischem Denken war also die Philosophie, die sich bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts durchsetzte. Er wurde allmählich von der anorganischen Materie (wie in der Physik und Astronomie) auf das Leben und die Lebensprozesse ausgedehnt. Die biologische Wissenschaft versuchte, das Leben mit den Begriffen der Physik und der Chemie durch mechanische Kausalität zu erklären.
Diese Entwicklung in Form der modernen Molekularbiologie und Paläontologie, gekoppelt mit der neodarwinistischen Evolutionstheorie, war enorm erfolgreich. Die Molekularbiologie hat z. B. außergewöhnliche Entdeckungen über die Natur und Funktion des genetischen Materials gemacht. Auf dem Gebiet der Gentechnik haben sich immense neue Visionen eröffnet, alles im Rahmen dieses mechanistischen Systems.
Nachdem die Erde als Mittelpunkt göttlicher Schöpfung entthront und der Mensch als ein natürliches Evolutionsprodukt erkannt wurde, kam schliesslich Sigmund Freud und zeigte auf, dass der Mensch nicht mal Herr in seinem eigenen Haus war. Freud war in der Neurologie ausgebildet worden, und auch er ging davon aus, dass die gesamte menschliche Psychologie in Begriffen der Neurochemie, der Chemie des Nervensystems, erklärt werden könnte.
Er war der erste, der aufzeigte, dass es eine ganze Welt des Unbewussten unterhalb der bewussten Erfahrung des Geistes gibt. So wie es in der Natur Kräfte gibt, die die verschiedenen Körper in der Welt bewegen, so gibt es auch Kräfte im Unbewussten, in Form von Instinkten und Instinkten und Impulsen, Begierden und Wünschen, die den Menschen bewegen.
Damit waren Welt und Mensch hinreichend erklärt. Es gab nichts weltbewegend Neues mehr zu entdecken.
Doch dann erschienen Freud-Schüler wie Wilhelm Reich oder C.G. Jung und eine neue Generation von brillanten Physikern. Und plötzlich begann sich wieder eine kleine Tür hinaus ins Unbekannte jenseits der Materie zu öffnen …
Darüber mehr am kommenden Freitag, den 21. Mai.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz