Mit der Frage “Was lässt sich also laut Huxley tun?” endete die letzte Folge angesichts der Gefahr, dass unsere Demokratie Schritt um Schritt schleichend ausgehöhlt wird, ohne dass wir es bemerken. Oder müsste man vielleicht eher sagen: — ohne dass wir es bemerken wollen!? Dieser Verdacht drängt sich paradigmatisch am Beispiel der politischen Entwicklung in den USA geradezu auf. Und wieder kann man feststellen, dass Huxley sich schon vor über 60 Jahren genau diese Frage stellte:
Wollen wir wirklich auf Grund unseres Wissens handeln? Hält eine Mehrheit der Bevölkerung es für der Mühe wert, die Anstrengung auf sich zu nehmen, die gegenwärtige, zu totalitärer Kontrolle von allem und jedem führende Entwicklung aufzuhalten und, wenn möglich, rückgängig zu machen?
In den USA – und sie sind das prophetische Bild der übrigen verstädterten und industrialisierten Welt, wie sie in ein paar Jahren sein wird – haben die jüngsten Ergebnisse der Meinungsforschung enthüllt, dass eine tatsächliche Mehrheit junger Menschen unter zwanzig, die Wählerschaft von morgen, kein Vertrauen zu demokratischen Einrichtungen hat, nichts sieht, was gegen die Zensur unbeliebter Ideen spräche, nicht glaubt, dass Regieren des Volkes durch das Volk möglich sei, und völlig zufrieden wäre, wenn sie weiter in dem Stil leben könnte, an den die Konjunktur sie gewöhnt hat, und von oben her von einer Oligarchie assortierter Fachleute regiert würde.
Dass so viele der wohlgenährten jungen »Fernseher« in der mächtigsten Demokratie der Welt so völlig gleichgültig gegen die Idee der Selbstregierung, so ohne jedes Interesse für Gedankenfreiheit und das Recht auf eine abweichende Meinung sind, ist betrüblich, aber nicht allzu erstaunlich. »Frei wie ein Vogel«, sagen wir und beneiden die beschwingten Geschöpfe um ihr Vermögen unbeschränkter Bewegungsfreiheit in allen drei Dimensionen.
Aber leider vergessen wir den Dodo. Jeder Vogel, der gelernt hat, sich einen guten Lebensunterhalt aus dem Boden zu wühlen, ohne gezwungen zu sein, seine Flügel zu gebrauchen, wird bald auf das Vorrecht des Fliegens verzichten und für immer auf dem Erdboden bleiben. Ein Gleiches trifft auch auf die Menschen zu. Wenn das Brot dreimal täglich regelmäßig und reichlich geboten wird, werden viele ganz zufrieden sein, vom Brot allein zu leben – oder zumindest von Brot und Zirkusspielen allein. »Am Ende«, sagt der Großinquisitor in Dostojewskis Parabel, »am Ende werden sie uns ihre Freiheit zu Füßen legen und zu uns sagen: ›Macht uns zu euren Sklaven, aber füttert uns!‹«
Es gilt also, diese weitverbreitete politische — und letztlich seelische — Lethargie zu überwinden, und sich als wacher Zeitgenosse und wache Zeitgenossin seinen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. Damit das Unterfangen gelingt — so Huxley — , geht es darum, den goldenen Mittelweg zu finden:
Individuen müssen suggestibel genug sein, um willig und fähig zu sein, ihre Sozialgemeinschaft funktionsfähig zu erhalten, aber nicht so suggestibel, dass sie hilflos dem Zauberbann berufsmäßiger Gehirnmanipulierer verfallen. Ebenso sollten sie genug über Propaganda-Analyse belehrt werden, um vor einem unkritischen Glauben an glatten Unsinn bewahrt zu bleiben, aber nicht so viel, dass sie die nicht immer rationalen Ergüsse der wohlmeinenden Hüter der Tradition glattweg zurückwiesen.
Wahrscheinlich lässt sich der goldene Mittelweg zwischen Leichtgläubigkeit und völliger Skepsis nicht durch Analyse allein entdecken und einhalten. Dieses eher negative Behandeln des Problems wird durch etwas Positiveres ergänzt werden müssen – die Bekanntgabe eines Fundus allgemein anerkennbarer Werte, welche auf einer festen faktischen Grundlage beruhen.
Das sind erstens einmal der Wert der individuellen Freiheit, beruhend auf der Tatsache menschlicher Verschiedenheit und genetischer Einzigartigkeit; dann der Wert der Nächstenliebe und des Mitgefühls, gegründet auf die altvertraute, jüngst von der modernen Psychiatrie wiederentdeckte Tatsache, dass, was immer die geistige und körperliche Verschiedenheit der Menschen sein mag, Liebe für sie notwendig ist wie Nahrung und Obdach; und schließlich der Wert der Intelligenz, ohne welche die Liebe machtlos und die Freiheit unerreichbar sind.
Dieser Stamm von Werten wird uns ein Kriterium liefern, nach welchem Propaganda beurteilt werden kann. Diejenige Propaganda, die für unsinnig und auch unmoralisch befunden wird, kann sogleich rundweg zurückgewiesen werden. Diejenige, die bloß unvernünftig, aber mit Liebe und Freiheit vereinbar ist und nicht grundsätzlich dem Gebrauch des Verstandes entgegensteht, kann provisorisch für das, was sie wert ist, akzeptiert werden.
Ein weiteres Kriterium, das für Huxley gegen Ende seines Lebens immer wichtiger wurde, ist die Inituition: eine aus der tiefen inneren Stille hochsteigenden Erkenntnis, die wir “intuitiv” als wahr und richtig erkennen. Sie wird sich immer an den höchsten ethischen Kriterien, einer tiefen Achtung vor dem Leben in welcher Form auch immer und der Respektierung der Freiheit des Individuums messen lassen müssen.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz / Christentum und Gnosis / Helvetia — quo vadis? / Aldous Huxley / Dle WW und die Katholische Kirche / Trump Dämmerung