Der Behaup­tung der Behav­ior­is­ten und viel­er aktueller Gehirn­forsch­er, der Men­sch sei eine “bio­chemis­che Mar­i­onette”, deren Pro­gram­mierung voll­ständig durch die Gesellschaft erfolge, in welch­er er lebt (Fam­i­lie, soziale Schicht, Staats­form, usw.) set­zt Hux­ley die Beobach­tung ent­ge­gen, dass
… im wirk­lichen Leben, im Leben, wie es von Tag zu Tag gelebt wird, das Indi­vidu­um nie hin­wegerk­lärt wer­den (kann). Nur in der The­o­rie scheint sich sein Beitrag dem Nullpunkt zu näh­ern; in der Prax­is ist er von auss­chlaggeben­der Bedeu­tung. Wenn in unser­er Welt eine Arbeit geleis­tet wird, wer leis­tet sie tat­säch­lich? Wessen Augen und Ohren besor­gen das Wahrnehmen, wessen Gehirn besorgt das Denken, wer hat die motivieren­den Gefüh­le, den Willen, der die Hin­dernisse über­windet? Gewiss nicht die soziale Umwelt; denn eine Gruppe ist kein Organ­is­mus, son­dern nur eine blinde, unbe­wusste Organ­i­sa­tion. Alles, was inner­halb ein­er Gesellschaft geschieht, wird von Indi­viduen ver­an­lasst.
Diese Indi­viduen sind natür­lich tief bee­in­flusst von der örtlichen Kul­tur, den herrschen­den Tabus und Sit­tenge­set­zen, den aus der Ver­gan­gen­heit überkomme­nen, in einem Ver­bund mündlich­er Tra­di­tio­nen oder schriftlich­er Über­liefer­un­gen bewahrten richti­gen und falschen Erken­nt­nis­sen; aber was immer sich jed­er Einzelne von der Gesellschaft nimmt (oder, um genauer zu sein, was immer er sich von anderen, zu Grup­pen zusam­mengeschlosse­nen Indi­viduen nimmt, oder aus den, von anderen, leben­den oder ver­stor­be­nen Indi­viduen, gesam­melten sym­bol­is­chen Zeug­nis­sen), wird von ihm ganz auf seine eigene, einzi­gar­tige Weise ange­wandt wer­den – mit seinem spez­i­fis­chen Ver­stand, sein­er bio­chemis­chen Kon­sti­tu­tion, seinem und nie­man­des anderem Kör­per­bau und Tem­pera­ment. Jegliche wis­senschaftliche Erk­lärung, wie umfassend sie auch sein mag, kann diese selb­stver­ständlichen Gegeben­heit­en nicht hin­wegerk­lären.

Eine span­nende Frage ist, wie  diese “seine eigene, einzi­gar­tige Weise”, sich mit der Umwelt auseinan­derzuset­zen, zus­tandekommt. Hux­ley war der Mei­n­ung, dass dem genetis­chen “Ruck­sack” eine min­destens eben­so grosse Rolle zukomme wie der sozialen Kon­di­tion­ierung. In späteren Veröf­fentlichun­gen brachte er auch die Idee ein, dass unsere Ver­hal­tens­muster durch die Prä­gung aus früheren Inkar­na­tio­nen mitbes­timmt wer­den.

Wie also müsste aus sein­er Sicht eine wirkungsvolle Erziehung zu Frei­heit ausse­hen? — Erin­nern wir uns an seine Aus­sage:
Erziehung zur Frei­heit muss mit dem Kon­sta­tieren von Tat­sachen und dem For­mulieren von Werten begin­nen und muss dann geeignete Meth­o­d­en entwick­eln, diese Werte zu erre­ichen.
Eine solche Erziehung zur Frei­heit sollte, wie ich bere­its sagte, vor allem ein Unter­richt in Fak­ten und Werten sein – den Fak­ten indi­vidu­eller Ver­schieden­heit und genetis­ch­er Einzi­gar­tigkeit und den Werten der Frei­heit, Duld­samkeit und Näch­sten­liebe, welche die ethis­chen Korol­lar­ien dieser Fak­ten sind. Lei­der aber genü­gen wahres Wis­sen und gesunde Grund­sätze noch nicht. Eine gar nicht aufre­gende Wahrheit kann durch eine aufre­gende Unwahrheit ver­dunkelt wer­den. Ein geschick­ter Appell an Lei­den­schaft ist oft zu stark für die besten aller guten Vorsätze. Die Auswirkun­gen falsch­er und verderblich­er Pro­pa­gan­da lassen sich nicht anders neu­tral­isieren als durch gründliche Einübung der Kun­st, die Ver­fahrensweisen jen­er zu analysieren und ihre Sophis­tereien zu durch­schauen.

Es ist sich­er kein Zufall, dass Hux­ley als scharf­sin­niger Denker und Sprachvir­tu­ose das Schw­ergewicht ein­er solche Erziehung auf den bewussten Umgang mit der Sprache legte, denn
die Sprache hat den Fortschritt der Men­schheit von Tier­haftigkeit zu Zivil­isiertheit ermöglicht. Die Sprache hat die Men­schheit aber auch zu ein­er behar­rlich gepflegten Torheit und ein­er sys­tem­a­tis­chen, wahrhaft teu­flis­chen Schlechtigkeit inspiri­ert, die nicht weniger kennze­ich­nend für men­schlich­es Ver­hal­ten sind als die von der Sprache inspiri­erten Tugen­den sys­tem­a­tis­chen Vorbe­dacht­es und durchge­hal­te­nen engel­haften Wohlwol­lens. Die Sprache erlaubt dem, der sie gebraucht, Din­gen, Per­so­n­en und Ereignis­sen Aufmerk­samkeit zu schenken, auch wenn diese Dinge und Per­so­n­en abwe­send sind und die Ereignisse sich gar nicht ereignen. Die Sprache gibt unseren Erin­nerun­gen feste Gestalt und ver­wan­delt, indem sie Erfahrun­gen in Sym­bole über­set­zt, die Unmit­tel­barkeit von Begierde oder Abscheu, von Hass oder Liebe in feste Grund­sätze des Füh­lens und Han­delns. (…)

In ihrer anti­ra­tionalen Pro­pa­gan­da ver­drehen die Feinde der Frei­heit sys­tem­a­tisch die Mit­tel der Sprache, um ihre Opfer in ein Denken, Fühlen und Han­deln zu lock­en oder zu scheuchen, welch­es den Gehirn­ma­nip­ulier­ern genehm ist. Eine Erziehung zur Frei­heit (und zu Liebe und Intel­li­genz, die zugle­ich die Bedin­gun­gen und die Ergeb­nisse der Frei­heit sind) muss unter anderem eine Erziehung zum richti­gen Gebrauch der Sprache sein. Während der let­zten zwei oder drei Gen­er­a­tio­nen haben die Philosophen viel Zeit und Denken auf die Analyse von Sym­bol­en und die Bedeu­tung von Bedeu­tun­gen ver­wen­det. In welch­er Beziehung ste­hen die Worte und Sätze, die wir sprechen, zu den Din­gen, Per­so­n­en und Ereignis­sen, mit denen wir im All­t­agsleben zu tun haben? Diese Frage zu erörtern, würde zu viel Zeit erfordern und uns zu weit führen. Beg­nü­gen wir uns, zu sagen, dass alles intellek­tuelle Mate­r­i­al für einen gründlichen Unter­richt im richti­gen Gebrauch der Sprache – einen Unter­richt auf jed­er Stufe, vom Kinder­garten bis zu Kursen für Graduierte – nun zur Ver­fü­gung ste­ht. Eine solche Aus­bil­dung in der Kun­st, zwis­chen dem gehöri­gen und dem unge­höri­gen Gebrauch von Sym­bol­en zu unter­schei­den, kön­nte sogle­ich ihren Anfang nehmen. Ja sie hätte schon zu jedem Zeit­punkt während der let­zten dreißig oder vierzig Jahre einge­führt wer­den kön­nen. Und doch wer­den Kinder nir­gends auf eine sys­tem­a­tis­che Weise gelehrt, wahre von falschen, sin­nvolle von sinnlosen Behaup­tun­gen zu unter­schei­den. Warum ist das so? Weil, sog­ar in den demokratis­chen Län­dern, die Erwach­se­nen nicht wollen, dass den Kindern diese Art von Aus­bil­dung zuteil werde.

Ob dieser Vorschlag genügt, aus uns freie, selb­st­bes­timmte Indi­viduen zu machen? Erich Fromm hätte da ein paar Ein­wände .…

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 15. Juni.

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