Dass die Naturwissenschaften und die pragmatische Anwendung ihrer Erkenntnisse seit dem 18. Jahrhundert einen höchst eindrücklichen Siegeszug hinter sich haben, ist offensichtlich, und sie veränderten unsere Gesellschaft auf viele Weisen radikal, zum Guten und zum Schlechten. Huxley war von der rasanten Entwicklung der Naturwissenschaften fasziniert und beeindruckt. Gleichzeitig erkannte er die Gefahren, die von einer unkritischen Akzeptanz des naturwissenschaftlichen Weltbildes ausging. Denn dieses Weltbild hängt eng damit zusammen, wie geforscht wird:
Als Theorie befasst sich die reine Wissenschaft mit der Reduktion von Vielfalt auf Identität. Als Praxis geht die wissenschaftliche Forschung durch Vereinfachung vor. (…) Der erste Schritt in dieser Vereinfachung der Realität, ohne die (da der menschliche Verstand endlich und die Natur unendlich ist) wissenschaftliches Denken und Handeln unmöglich wäre, ist ein Prozess der Abstraktion.
Die Wissenschaftler, die mit den Daten der Erfahrung konfrontiert werden, lassen zunächst all jene Aspekte der Tatsachen außer Acht, die sich nicht messen lassen und die sich nicht durch vorangehende Ursachen und nicht durch Zweck, Absicht und Werte erklären lassen. Aus pragmatischer Sicht ist diese seltsame und äußerst willkürliche Vorgehensweise gerechtfertigt, denn durch die ausschließliche Konzentration auf die messbaren Aspekte derjenigen Elemente der Erfahrung, die sich mit Hilfe eines Kausalsystems erklären lassen, konnten sie eine große und ständig wachsende Kontrolle über die Energien der Natur erlangen.
Aber Macht ist nicht dasselbe wie Einsicht, und als Abbild der Wirklichkeit ist das wissenschaftliche Weltbild unzureichend, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Wissenschaft nicht einmal den Anspruch erhebt, sich mit der Erfahrung in ihrer Gesamtheit zu befassen, sondern nur mit bestimmten Aspekten davon in bestimmten Zusammenhängen.
Die grosse Gefahr liegt nun für Huxley darin, dass diese Prinzipien, die im Labor sehr wohl Sinn machen, auf unkritische Weisheit auf andere Ebenen menschlicher Existenz übernommen werden:
… auf die Probleme der menschlichen Gesellschaft angewandt, ist der Prozess der Vereinfachung unweigerlich ein Prozess der Einschränkung und Reglementierung, der Beschneidung der Freiheit und der Verweigerung der individuellen Rechte. Diese Reduzierung der menschlichen Vielfalt auf eine militärische und quasi-mechanische Identität wird durch Propaganda, durch Gesetzeserlasse und, wenn nötig, durch rohe Gewalt erreicht — durch die Inhaftierung, Verbannung oder Liquidierung derjenigen Personen oder Klassen, die in ihrem perversen Wunsch verharren, sie selbst zu bleiben, und die sich hartnäckig weigern, sich dem Muster anzupassen, das die politischen und wirtschaftlichen Bosse im Moment am bequemsten durchsetzen können.
Eine noch grössere Gefahr sah Huxley allerdings darin, dass das in den wissenschaftlichen Theorien implizit enthaltene Weltbild als vollständige und erschöpfende Darstellung der Realität wahrgenommen wird.
Wegen des Ansehens der Wissenschaft als Machtquelle und wegen der allgemeinen Vernachlässigung der Philosophie enthält die populäre Weltanschauung unserer Zeit ein groûes Element dessen, was man als “Nichts-als-Denken” bezeichnen könnte. Der Mensch, so wird mehr oder weniger stillschweigend angenommen, ist nichts anderes als ein Körper, ein Tier, ja sogar eine Maschine; die einzigen wirklich realen Elemente der Wirklichkeit sind Materie und Energie in ihren messbaren Aspekten; Werte sind nichts anderes als Illusionen, die sich irgendwie mit unserer Welterfahrung vermischt haben; geistige Vorgänge sind nichts anderes als Epiphänomene, die von der Physiologie hervorgebracht werden und völlig von ihr abhängen; Spiritualität ist nichts anderes als Wunscherfüllung und fehlgeleiteter Sex usw. Die politischen Folgen dieser “Nichts-als-Philosophie” zeigen sich deutlich in der weit verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber den Werten der menschlichen Persönlichkeit und des menschlichen Lebens, die für das heutige Zeitalter so charakteristisch ist.
Zwar ist das “Nichts-als-Denken” auch heute noch die tonangebende Doktrin im wissen-schaftlichen “Mainstream”-Diskurs, aber die Anzahl jener Forschenden, die — gerade angesichts der neuesten Erkenntnisse in der Quantenphysik — daran sind, sich von diesem Denkkorsett zu lösen, nimmt glücklicherweise stetig zu.
Die kommende Woche verbringt der birsfaelder.li-Schreiberling in der Provence, weshalb die nächste Folge am Samstag, den 13. April erscheint.
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