Entscheidend auf dem Weg Huxleys zu einer dezidiert pazifistischen Haltung war die durch seinen Freund Gerald Heard vermittelte Begegnung mit dem Priester Dick Sheppard, Domkapitular der St. Pauls Kathedrale und Dean of Canterbury. Im Juli 1935 hatten über 7000 Interessierte in der Royal Albert Hall dessen Versammlung zur Gründung der Peace Pledge Union besucht. Huxley wurde zu einem enthusiastischen Anhänger der neuen Bewegung:
Sheppards klare Zielrichtung beeindruckte ihn sehr. Obwohl er dessen christlichen Glauben nicht teilte, spürte er, dass nur ein religiöses Fundament dem Pazifismus seine ganze Kraft verleihen konnte. Schon am 27. November stand er in der Royal Albert Hall für die Friedensbewegung auf dem Rednerpodium. Eine Woche später sprach er vor vielen interessierten Hörern im Friends House, der Londoner Zentrale der britischen Quäker in der Euston Road. Hier äusserte er zum ersten Mal öffentlich seine schwer errungene neue Anschauung, die er bald darauf in einem Brief festhielt:
“Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass nichts auch nur annähernd funktionieren und uns aus der gegenwärtigen Krise führen kann ausser ein vollkommener Pazifismus nach Art der Quäker oder Buddhisten. Die Implikationen sind natürlich, prinzipiell religiös — christlich für die, die an das Christentum glauben; für diejenigen, die das nicht tun (und das Christentum hat einen sehr schlechten Ruf, was den Frieden anbelangt), (bestehen sie) in der viel einfacheren Vorstellung von einer zugrunde liegenden spirituellen Einheit, die durch praktische Meditation erfahrbar ist.”
Endlich hatte Aldous den entscheidenden Schritt gewagt, der aus seiner langjährigen Beschäftigung mit der mystischen Erfahrung erwuchs. Zwar würde er sich weiterhin konsequent als Agnostiker bezeichnen, von der metaphysischen Idee eines Weltzusammenhangs, eines spirituellen Urgrundes, auf den alle Phänomene, so verschieden und widersprüchlich sie auch erscheinen, zurückzuführen sind, sollte er aber zeit seines Lebens nicht mehr abweichen. Sie dominierte sein zukünftiges Denken und Handeln mit all den moralischen Konsequenzen, die sich aus ihr ergaben. Insbesondere prägte sie seine Einstellung zum individuellen Selbst, das er jetzt immer in Relation zu einem grösseren, umfassenden Ganzen betrachtete.
In Frankreich hatte Huxley im Juni die Bemühungen des Schriftstellers und Pazifisten Henri Barbusse für eine Friedenskonferenz unterstützt. Barbusse hatte die Hölle des Schützengrabenkriegs an der Westfront erlebt und mit seinem Buch “Le feu” Weltruhm erlangt.
Auch begann Aldous jüdische Flüchtlinge aus Deutschland finanziell zu unterstützen und nach England zu schleusen. Im April 1936 erschien sein kleines Büchlein “What Are You Going to Do About it? The Case for Constructive Peace”, dessen Tantiemen an die Peace Pledge Union gingen, und gab anschliessend “An Encyclopedia of Pacifism” heraus, die 1937 erscheinen sollte.
Mit dieser inneren Entwicklung geriet Huxley gleich zweifach ins Kreuzfeuer von Kritikern. Einige Huxley-Fans goutierten seinen Wechsel vom oft scharfzüngigen und beissenden Gesellschaftskritiker, der bislang so eindrucksvoll die “Philosophie der Bedeutungslosigkeit” beschworen hatte, zum ernsthaften spirituellen Sucher nicht. Auch seine pazifistische Haltung wurde von verschiedensten Seiten als wirklichkeitsfremd abgetan und belächelt:
Der anglo-irische Schriftsteller Cecil Day Lewis antwortete (auf dessen Büchlein) mit der Schmähschrift “We’re Not Going to Do Nothing”, die von der kommunistischen Zeitschrift Little Review herausgegeben wurde. Wenig später veröffentlichte der Dichter Stephen Spender in der Little Review seinen “Open Letter to Aldous Huxley”, in dem er den Landsmann beschuldigte, die unterdrückten Pazifisten in Italien, Deutschland und Österreich ihrem Schicksal zu übereignen. Huxley liess sich von der Polemik nicht beeindrucken Er blieb bei seinem festen Standpunkt, dass die Ausübung von Gewalt vornehmlich Gegengewalt erzeuge. Allein ein gewaltloses Auftreten berge die Hoffnung, auf Dauer Fortschritte im Zusammenleben der Menschen und Völker zu erzielen.
1937 erwies sich noch in anderer Weise als Schicksalsjahr für die Huxleys. Dazu mehr im neuen Jahr.
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