Wie schon in die­ser Fol­ge erlaubt sich der Schrei­ber­ling, der Ent­wick­lung Hux­leys etwas vor­zu­grei­fen und einen Aus­zug aus einem 1946 publi­zier­ten Arti­kel mit dem Titel “Some Reflec­tions on Time” vor­zu­stel­len, die gegen Ende in ein paar beden­kens­wer­te Über­le­gun­gen zur Fra­ge ein­mün­den, wie unse­re Bezie­hung zur Zeit direkt poli­ti­sche Kon­zep­te erschafft.

Die Zeit zer­stört alles, was sie erschafft, und das Ende jeder zeit­li­chen Abfol­ge ist für das dar­an betei­lig­te Wesen eine Form des Todes. Der Tod wird nur dann voll­stän­dig über­wun­den, wenn die Zeit tran­szen­diert wird; Unsterb­lich­keit ist das Bewusst­sein, das das Zeit­li­che ins Zeit­lo­se durch­bro­chen hat. Für alle ande­ren Bewusst­seins­ebe­nen gibt es bes­ten­falls ein Über­le­ben oder eine Wie­der­ge­burt; und die­se zie­hen wei­te­re zeit­li­che Abläu­fe und die peri­odi­sche Wie­der­kehr wei­te­rer Tode und Auf­lö­sun­gen nach sich.
In allen tra­di­tio­nel­len Phi­lo­so­phien und Reli­gio­nen der Welt wird die Zeit als Feind und Betrü­ger, als Gefäng­nis und Fol­ter­kam­mer betrach­tet. Nur als Instru­ment, als Mit­tel zu etwas ande­rem, besitzt sie einen posi­ti­ven Wert; denn die Zeit bie­tet der ver­kör­per­ten See­le Mög­lich­kei­ten, die Zeit zu tran­szen­die­ren; jeder Augen­blick jeder zeit­li­chen Abfol­ge ist poten­ti­ell die Tür, durch die wir, wenn wir es wün­schen, in das Ewi­ge durchbre­chen können.
Alle zeit­li­chen Güter sind Mit­tel zu einem Zweck, der über sich selbst hin­aus­geht; sie dür­fen nicht als Selbst­zweck behan­delt werden. (…)

 Die Bewe­gung in der Zeit ist unum­kehr­bar in eine Rich­tung. “Wir leben vor­wärts”, wie Kier­ke­gaard sag­te, “aber wir kön­nen nur rück­wärts ver­ste­hen”. Dar­über hin­aus ist der Fluss der Dau­er unbe­stimmt und unschlüs­sig, ein immer­wäh­ren­des Ver­ge­hen, das in sich selbst kein Mus­ter, kei­ne Mög­lich­keit des Gleich­ge­wichts oder der Sym­me­trie besitzt. Die Natur zwingt die­sem ewi­gen Ver­ge­hen zwar ein gewis­ses Erschei­nungs­bild von Mus­ter und Sym­me­trie auf. So wech­seln sich Tage und Näch­te ab, die Jah­res­zei­ten wie­der­ho­len sich mit Regel­mä­ßig­keit, Pflan­zen und Tie­re haben ihre Lebens­zy­klen und wer­den von Nach­kom­men wie sie selbst abgelöst.
Aber all die­se Mus­ter, Sym­me­trien und Wie­der­ho­lun­gen sind cha­rak­te­ris­tisch nicht für die Zeit an sich, son­dern für Raum und Mate­rie, wie sie in unse­rem Bewusst­sein mit der Zeit ver­bun­den sind. Tage und Näch­te und Jah­res­zei­ten gibt es, weil sich bestimm­te Him­mels­kör­per auf eine bestimm­te Wei­se bewe­gen. Wenn die Erde nicht ein Jahr, son­dern ein Jahr­hun­dert bräuch­te, um sich um die Son­ne zu bewe­gen, wäre unser Gefühl für die eigent­li­che Form­lo­sig­keit der Zeit, für ihr unwi­der­ruf­li­ches, ein­sei­ti­ges Ver­ge­hen zum Tod aller an ihr betei­lig­ten Wesen­hei­ten, viel aus­ge­präg­ter als heu­te; denn die meis­ten von uns wür­den unter die­sen hypo­the­ti­schen Umstän­den nie­mals alle vier Jah­res­zei­ten des lan­gen Jah­res erle­ben und hät­ten kei­ne Erfah­rung mit jener Wie­der­kehr und Erneue­rung, jenen kos­mi­schen Varia­tio­nen bekann­ter The­men, die unter der gegen­wär­ti­gen astro­no­mi­schen Dis­po­si­ti­on das Wesen der Zeit ver­schlei­ern, indem sie ihr eini­ge der Eigen­schaf­ten des Raums ver­lei­hen oder zu ver­lei­hen scheinen.

Der Raum ist ein Sym­bol für die Ewig­keit; denn im Raum gibt es Frei­heit, gibt es die Umkehr­bar­keit der Bewe­gung, und es gibt nichts in der Natur des Rau­mes, wie in der der Zeit, das die in ihn ver­wi­ckel­ten Per­so­nen zum unver­meid­li­chen Tod und zur Auf­lö­sung ver­dammt. Wenn der Raum mate­ri­el­le Kör­per ent­hält, ent­steht außer­dem die Mög­lich­keit der Ord­nung, des Gleich­ge­wichts, der Sym­me­trie und des Mus­ters — mit einem Wort, die Mög­lich­keit jener Schön­heit, die zusam­men mit der Güte und der Wahr­heit ihren Platz in der Tri­ni­tät der mani­fes­tier­ten Gott­heit einnimmt. (…)

Eini­ge west­li­che Phi­lo­so­phen der letz­ten Genera­tio­nen haben ver­sucht, die Zeit aus der Posi­ti­on zu erhe­ben, die ihr von den tra­di­tio­nel­len Reli­gio­nen und dem nor­ma­len Emp­fin­den der Mensch­heit zuge­wie­sen wur­de. So wird die Zeit unter dem Ein­fluss der Evo­lu­ti­ons­theo­rien als Schöp­fer der höchs­ten Wer­te betrach­tet, so dass sogar Gott emer­gent ist — ein Pro­dukt des ein­sei­ti­gen Flus­ses des ewi­gen Ver­ge­hens — und nicht (wie in den tra­di­tio­nel­len Reli­gio­nen) als zeit­lo­ser Zeu­ge der Zeit, der sie tran­szen­diert und auf­grund die­ser Tran­szen­denz in ihr imma­nent sein kann.
Eng ver­bun­den mit der Emer­genz­theo­rie ist die berg­son­sche Auf­fas­sung, dass die “Dau­er” die pri­mä­re und letz­te Rea­li­tät ist und dass die “Lebens­kraft” aus­schließ­lich im Fluss exis­tiert. Auf einer ande­ren Linie ste­hen die Hegel­sche und die Marx­sche Geschichts­phi­lo­so­phie, die … als zeit­li­che Vor­se­hung hypo­st­asiert wird, die auf die Ver­wirk­li­chung des Him­mel­reichs auf Erden hin­ar­bei­tet — die­ses Him­mel­reich auf Erden ist für Hegel eine ver­herr­lich­te Ver­si­on des preu­ßi­schen Staa­tes und für Marx, der von den Auto­ri­tä­ten die­ses Staa­tes ins Exil geschickt wur­de, die Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats, die durch den Pro­zess der Dia­lek­tik “zwangs­läu­fig” zur klas­sen­lo­sen Gesell­schaft führt.

Die­se Geschichts­auf­fas­sun­gen gehen davon aus, dass das Gött­li­che oder die Geschich­te oder der kos­mi­sche Pro­zess oder der Geist oder wie auch immer das Wesen, das sich der Zeit für sei­ne Zwe­cke bedient, mit der Mensch­heit in der Mas­se befasst ist, nicht mit Mann und Frau als Indi­vi­du­en — und nicht mit der Mensch­heit zu einem bestimm­ten Zeit­punkt, son­dern mit der Mensch­heit als einer Abfol­ge von Generationen.
Nun scheint es abso­lut kei­nen Grund für die Annah­me zu geben, dass dies der Fall ist — abso­lut kei­nen Grund für die Annah­me, dass es eine kol­lek­ti­ve See­le der auf­ein­an­der­fol­gen­den Genera­tio­nen gibt, die in der Lage ist, die von Geist, Geschich­te, Lebens­kraft und allem ande­ren über­mit­tel­ten Impul­se zu erfah­ren, zu ver­ste­hen und danach zu han­deln. Im Gegen­teil, alles deu­tet dar­auf hin, dass es die indi­vi­du­el­le See­le ist, die zu einem bestimm­ten Zeit­punkt inkar­niert ist und die allein den Kon­takt mit dem Gött­li­chen her­stel­len kann, ganz zu schwei­gen von ande­ren Seelen.

Der Glau­be (der sich auf offen­sicht­li­che und selbst­ver­ständ­li­che Tat­sa­chen stützt), dass die Mensch­heit zu einem bestimm­ten Zeit­punkt durch die Per­so­nen reprä­sen­tiert wird, die die Mas­se bil­den, und dass alle Wer­te der Mensch­heit in die­sen Per­so­nen woh­nen, wird von die­sen Geschichts­phi­lo­so­phen als absurd ober­fläch­lich betrach­tet. Aber man erkennt den Baum an sei­nen Früch­ten. Die­je­ni­gen, die an den Vor­rang der Per­so­nen glau­ben und der Mei­nung sind, dass das End­ziel aller Per­so­nen dar­in besteht, die Zeit zu über­win­den und das Ewi­ge und Zeit­lo­se zu ver­wirk­li­chen, sind wie die Hin­dus, die Bud­dhis­ten, die Tao­is­ten und die Urchris­ten immer Ver­fech­ter der Gewalt­lo­sig­keit, der Sanft­mut, des Frie­dens und der Toleranz.
Die­je­ni­gen hin­ge­gen, die ger­ne “tief­grün­dig” im Sin­ne von Hegel und Marx sind, die mei­nen, dass die “Geschich­te” sich mit der Mensch­heit in der Mas­se und der Mensch­heit als auf­ein­an­der­fol­gen­de Genera­tio­nen befasst und nicht mit ein­zel­nen Män­nern und Frau­en hier und jetzt, sind dem mensch­li­chen Leben und den per­sön­li­chen Wer­ten gegen­über gleich­gül­tig, Sie beten die Molochs an, die sie Staat und Gesell­schaft nen­nen, und sind fröh­lich bereit, auf­ein­an­der­fol­gen­de Genera­tio­nen rea­ler, kon­kre­ter Per­so­nen zu opfern für das völ­lig hypo­the­ti­sche Glück, das ihrer Mei­nung nach in fer­ner Zukunft das Los der Mensch­heit sein wird, und zwar ohne jeden Grund.

Die Poli­tik der­je­ni­gen, die die Ewig­keit als letz­te Rea­li­tät betrach­ten, befasst sich mit der Gegen­wart und mit den Mit­teln und Wegen, die gegen­wär­ti­ge Welt so zu gestal­ten, dass sie der indi­vi­du­el­len Befrei­ung von Zeit und Unwis­sen­heit mög­lichst weni­ge Hin­der­nis­se in den Weg legt.
Die­je­ni­gen hin­ge­gen, die die Zeit als letz­te Rea­li­tät betrach­ten, sind in ers­ter Linie mit der Zukunft beschäf­tigt und betrach­ten die gegen­wär­ti­ge Welt und ihre Bewoh­ner als blo­ße Trüm­mer, als Kano­nen­fut­ter, als poten­ti­el­le Skla­ven­ar­bei­ter, die aus­ge­beu­tet, ter­ro­ri­siert, liqui­diert oder in die Luft gesprengt wer­den müs­sen, damit Men­schen, die viel­leicht nie gebo­ren wer­den, in einer zukünf­ti­gen Zeit, über die man nichts mit dem gerings­ten Grad an Gewiss­heit wis­sen kann, die Art von wun­der­vol­ler Zeit haben kön­nen, die die heu­ti­gen Revo­lu­tio­nä­re und Kriegs­trei­ber mei­nen, dass sie haben soll­ten. Wäre der Wahn­sinn nicht kri­mi­nell, wäre man ver­sucht, zu lachen.

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