Der Vor­wurf von Jack D. For­bes, die Mensch­heit sei an der “Weti­ko-Seu­che” erkrankt, wiegt schwer. Ist er aber auch gerechtfertigt?
Die­ser Fra­ge wol­len wir in den nächs­ten Fol­gen nach­ge­hen. Doch zuvor gilt es, sich ein­fach ein­mal sei­nen Vor­wür­fen auszusetzen:
Seit meh­re­ren tau­send Jah­ren lei­det die Mensch­heit an einer Pest, einem Gebre­chen, schlim­mer als Lepra, einer Krank­heit, schlim­mer als Mala­ria, einer Seu­che, noch furcht­ba­rer als die Pocken.
Eine Frau wird von Män­nern ange­griffen, die sie bru­tal ver­ge­wal­ti­gen und sie wie tot lie­gen lassen.
India­ner wer­den ermor­det, nur um ver­arm­te Misch­lin­ge zum Kau­tschuk­sam­meln im Dschun­gel zu zwin­gen, unter Bedin­gun­gen, die die Kau­tschuk­jä­ger selbst zum elen­den Ster­ben verdammen.
Klei­ne Län­der wer­den besetzt, damit ein gan­zes Volk und sei­ne Roh­stoffe aus­ge­beu­tet wer­den können. …
Jun­gen wer­den erzo­gen, um Befeh­len zu gehor­chen und Kano­nen­fut­ter abzu­ge­ben, wäh­rend man Mäd­chen lehrt, ihre Kin­der den Armeen, Fabri­ken und Plan­ta­gen zu überlassen.
Der »Kult« von Aggres­si­on und Gewalt herrscht unum­schränkt, und die Gefäng­nis­se und psych­ia­tri­schen Anstal­ten sind zum Bers­ten voll.

»Impe­ria­lis­mus«, »Kolo­nia­lis­mus«, »Tor­tur«, »Ver­skla­vung«, »Erobe­rung«, »Bru­ta­li­tät«, »Lüge«, »Geheim­po­li­zei«, »Betrug«, »Gier«, »Ver­ge­wal­ti­gung«, »Ter­ro­ris­mus«, blo­ße Wor­te, bis wir davon betrof­fen wer­den. Dann wer­den Wor­te zu einer bösen Rea­li­tät, die über unser Leben her­ein­bricht, voll­stän­dig von ihm Besitz ergreift und es für immer verändert.
Dies ist also die Krank­heit, mit der ich mich hier befas­sen möch­te – die Seu­che der Gewalt gegen ande­re Lebe­we­sen und, genau­er gesagt, die Seu­che, das Leben und den Besitz ande­rer Geschöp­fe zu kon­su­mie­ren. Ich nen­ne die Seu­che Kan­ni­ba­lis­mus, und ich wer­de zu erklä­ren ver­su­chen, wes­halb. Aber wie auch immer wir sie nen­nen, die­se Seu­che, die­se Wéti­ko-Psy­cho­se ist die größ­te den Men­schen bekann­te anste­cken­de Krank­heit.

Ange­sichts eines 20. Jahr­hun­derts, das von zwei ver­hee­ren­den Welt­krie­gen und men­schen­ver­ach­ten­den Ideo­lo­gien geprägt war, kommt For­bes zum Urteil:
In vie­ler­lei Hin­sicht ist das 20. Jahr­hun­dert der ent­mu­ti­gends­te Zeit­raum der moder­nen Geschich­te. Wir haben das Ver­sa­gen der soge­nann­ten »west­li­chen Demo­kra­tien« bei der Lösung ihrer drin­gends­ten inne­ren Pro­ble­me mit­er­lebt, eben­so das Ver­sa­gen des Mar­xis­mus-Leni­nis­mus, mit den Fra­gen von Büro­kra­tie, Auto­ri­ta­ris­mus und dem Par­ti­ku­lar­in­ter­es­se der neu­en Macht­eli­ten fer­tig zu wer­den, das Ver­sa­gen der soge­nann­ten Mas­sen­er­zie­hung, das Ver­sa­gen der Tech­no­lo­gie, das Ver­sa­gen der eta­blier­ten Reli­gio­nen sowie das Ver­sa­gen der bis­her am bes­ten aus­ge­bil­de­ten und erzo­ge­nen Mensch­heits­ge­ne­ra­ti­on, der auch nicht mehr gelang, als die gro­ßen Welt­pro­ble­me zu übertünchen.

Und dann legt er den Fin­ger auf einen wun­den Punkt, der nach­denk­lich stimmt: Es sind nicht allein blut­rüns­ti­ge Dik­ta­to­ren, die der “Weti­ko-Psy­cho­se” zum Opfer gefal­len sind.
Bru­ta­li­tät und Heu­che­lei des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts wären wahr­lich weni­ger furcht­erre­gend, wenn die Füh­rung der Welt in den Hän­den unge­bil­de­ter Sol­da­ten (vom Typ eines Idi Amin) oder offen­kun­dig kri­mi­nel­ler Ele­men­te läge. Dies ist all­ge­mein jedoch nicht der Fall. Ohne Tech­no­kra­ten und geschul­te Beam­te, die die not­wen­di­gen Steu­ern ein­trei­ben und die Herr­schafts­struk­tur auf­recht­erhal­ten, kön­nen Men­schen wie Idi Amin nicht an der Macht blei­ben. Ohne die akti­ve Unter­stüt­zung oder die Bereit­schaft zur Zusam­men­ar­beit von tau­sen­den »gebil­de­ter« Exper­ten, Tech­ni­ker und Büro­kra­ten konn­ten weder Josef Sta­lin noch Adolf Hit­ler, weder Huey Long noch Fer­di­nand Mar­cos oder Augus­to Pino­chet regie­ren. Von gut­aus­ge­bil­de­tem Per­so­nal, wis­sen­schaft­li­chen Aus­rüs­tun­gen, moderns­ten sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­en über mensch­li­ches Ver­hal­ten und von büro­kra­ti­schen Ver­wal­tungs­sys­te­men (mit oder ohne Com­pu­ter) sind alle moder­nen Geheim­po­li­zei­en der Welt abhän­gig. Von Rechts­an­wäl­ten mit Hoch­schul­ab­schluß, von Ver­wal­tungs­fach­leu­ten und Geschäfts­füh­rern, von der Tech­no­lo­gie der moder­nen Gesell­schaf­ten hängt sogar das orga­ni­sier­te Ver­bre­chen ab.

“Bil­dung” allein ist offen­sicht­lich kein wirk­sa­mes Gegen­mit­tel gegen “Weti­ko”. Das zeigt sich an einem dras­ti­schen Bei­spiel, das For­bes in sei­nem Buch schil­dert. Dazu mehr in der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den Don­ners­tag, den 25. Mai.

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