Um die folgenden Schilderungen ernst zu nehmen und sie nicht gleich als Ammenmärchen abzutun, braucht es für die geneigte Leserin und den geneigten Leser die Bereitschaft, zwei Dinge als Möglichkeit in Betracht zu ziehen:
● Es gibt neben dem materiellen Universum noch andere Ebenen des Seins. Auf diesen feinstofflicheren Ebenen gibt es spirituelle Wesen, darunter auch “unsere” Engel und Erzengel. Zwar hat bis in die frühe Neuzeit niemand an der Existenz von Engeln gezweifelt, und Dionysius Aeropagita stellte eine komplexe Engelshierarchie vor, die im Christentum ihren festen Platz hatte. Viele wichtige Wallfahrtsorte sind z.B. dem Erzengel Michael geweiht. (Im Bild Erzengel Michael auf dem Mont St Michel). Aber dann kam die Aufklärung, es kam der Triumph der Naturwissenschaften, und die Engel verflüchtigten sich in mythische Wesen, — gerade noch gut genug für irgendwelche Legenden.
Heute ist das Interesse an Engeln wieder etwas erwacht, — die Fülle der New Age-Engelliteratur zeugt davon. Wer sich in die anregende Diskussion zwischen einem der interessantesten heutigen Theologen (Matthew Fox) und einem innovativen Naturwissenschaftler (Rupert Sheldrake) zum Thema “Engel” vertiefen möchte, greift mit Gewinn zu ihrem Buch mit dem etwas provozierenden Titel “The Physics of Angels. Where Science and Spirit meet”.
● Der nächste Schritt wäre, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass man mit diesen spirituellen Wesen kommunizieren kann, — sofern man die entsprechenden Fähigkeiten und Voraussetzungen in sich entwickelt hat. Genau das haben Magier und Pansophisten wie Paracelsus, Agrippa von Nettesheim und andere über die Jahrhundert hinweg immer wieder für sich in Anspruch genommen. Die einfache irische Hausfrau Lorna Byrne hat eindrückliche Bücher über ihre Erfahrungen mit Engeln geschrieben. Und das letzte Buch “Real Magic: Ancient Wisdom, Modern Science, and a Guide to the Secret Power of the Universe” des Parapsychologen Dean Radin, der am Institut for Noetic Sciences arbeitet, beschäftigt sich mit der Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, unsere materialistischen Scheuklappen endlich abzulegen und anzuerkennen, dass es — um mit Shakespeare zu sprechen — “mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sich eure Schulweisheit erträumen lässt”.
Doch jetzt zurück zu Cagliostro: In der umfangreichen Literatur zu seinem Leben werden viele Augenzeugen- und Erfahrungsberichte vorgestellt, die erzählen, wie der Magier an verschiedensten Orten in Europa Rituale mit Engeln durchführte. Hier die Beschreibung eines solchen Rituals aus dem Buch “Le maître inconnu” von Marc Haven:
In einem mit Symbolen geschmückten Raum versammelten sich an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Uhrzeit die Mitglieder der Loge, die ordnungsgemäß als ägyptische Freimaurer eingeweiht worden waren, nach den Anweisungen des Großmeisters vorbereitet waren und weder Schwerter noch Metalle trugen. Dieser Raum war durch eine Tür mit einem anderen, kleineren Raum verbunden, in dem ein mit einem weißen Tuch bedeckter Tisch, ein Stuhl und auf dem Tisch mehrere Kerzen in einem Dreieck standen, die eine mit Wasser gefüllte weiße Glaskaraffe umgaben. Vor der Karaffe lag ein Papier mit seltsamen Schriftzeichen.
Der Großmeister, in freimaurerischer Tracht und mit dem Schwert in der Hand, stellte ein sehr junges Kind — “Taube” genannt — vor und weihte es vor allen durch Handauflegung, durch Salbung mit einem Öl, das er das Öl der Weisheit nannte, und durch einige Worte für das Werk, das er vollbringen wollte, ließ er es in dem kleinen Raum vor der Karaffe Platz nehmen, ging hinaus, schloss die Tür hinter sich und stellte sich vor diese Tür, in denselben Raum wie die Anwesenden. Die “Taube” blieb allein in ihrer Behausung. Die Assistenten und der große Meister, nachdem sie einen Psalm Davids rezitiert hatten, besannen sich und beteten in der Stille.
Nach einem Moment fragte Cagliostro das Kind, ob es etwas in der Karaffe gesehen habe: “Ich sehe einen Engel… Engel…”, antwortete es oft. Nachdem er sich bei seinen geistigen Besuchern bedankt hatte, kündigte der große Meister an, dass man alle Fragen stellen könne, die man wolle, und die Assistenten stellten sie. Cagliostro gab die Fragen weiter; die Engel antworteten, entweder durch Zeichen oder Worte, die nur das Kind wahrnahm, oder indem sie ihm ein sich veränderndes Bild zeigten, das das Kind beschrieb.
Ein paar Beispiele von solchen Fragen:
Eine Dame fragte, was ihre Mutter in Paris mache. Die Antwort war, dass sie bei einer Theateraufführung zwischen zwei alten Männern sitze — was sich bestätigte. Eine andere Frau stellte den Wundertäter eine Falle: Sie wollte wissen, wie alt ihr Mann sei. Die Antwort blieb aus, was zu großen Begeisterungsschreien führte, denn die Frau hatte keinen Ehemann …
Manchmal wurde die Frage heimlich gestellt; dem jungen Mündel — es war ein Junge — wurde ein verschlossener Zettel in die Hand gedrückt. Er öffnete ihn nicht, sondern las sofort in der Karaffe die Worte: “Du wirst ihn nicht bekommen”. Der Brief wurde geöffnet und die Frage gestellt, ob das Regiment, das die Dame für ihren Sohn beantragte, bewilligt werden würde. Die Korrektheit der Antwort löste Bewunderung aus. …
Eine der eindrucksvollsten magischen Séancen, von der uns ein Bericht überliefert ist, fand in Warschau statt, wo er ein Papier verbrannte, auf das die Anwesenden ihre Unterschrift gesetzt hatten; bald darauf sah die “Taube” ein mit Wachs versiegeltes Blatt zu ihren Füßen fallen, das sie Cagliostro überreichte; es wurde geöffnet und jeder erkannte seine Unterschrift.
Erstaunen löste aus, als Cagliostro in Strassburg den Tod der Kaiserin Maria-Theresia verkündete, obwohl die offizielle Bestätigung erst zwei Tage später eintraf. In Warschau schilderte er einer jungen Dame, die ihn als Scharlatan auslachte, eine Reihe von zukünftigen Ereignissen in ihrem Leben, die dann tatsächlich auch eintrafen.
Im Laufe seiner Karriere verzichtete er immer mehr auf äußere magische Hilfsmittel (magischer Kreis, Schwert, usw.) und deklarierte: “Jeder, der den Weg mit Energie und Geduld gehen will, wird die gleichen Kräfte erhalten; denn Gott hat dem Menschen alles gegeben”. Und er fügte ein anderes Mal hinzu, dass der Mensch die Möglichkeit habe, spirituellen Wesen zu gebieten, denn er sei nach dem Bildnis und Gleichnis Gottes geschaffen und das vollkommenste seiner Werke. Es brauche dafür keine magischen Formeln, sondern einfach ein reines Herz, eine starke Seele, die Bereitschaft, wo immer möglich Gutes zu tun — und zu warten.
Das erinnert an den Ausspruch von Jesus: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: “Ich habe gesagt: Ihr seid Götter”? (Joh. 10:34)
Die detailliertesten Zeugnisse seiner magischen Arbeit finden sich im Bericht der Gräfin Elisabeth von der Recke: “Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dorten magischen Operationen.” Gräfin von der Recke wandelte sich später aus verschiedenen Gründen von einer Schülerin zu einer Gegnerin. Als Cagliostro in Russland bei Katharina II. nicht die erhoffte positive Aufnahme fand und in den folgenden Jahren nach der Halsbandaffäre eine ganze Reihe von Schmähschriften über den Magier erschienen, begann sie an den Fähigkeiten Cagliostros zu zweifeln. Schliesslich liess sie sich unter dem Einfluss des radikalen Aufklärers Friedrich Nicolai in Berlin dazu bewegen, sich reuevoll wieder zu einem “rationalen” Weltbild zu bekennen und mit ihrer Schrift Abbitte wegen ihrer schwärmerischen Leichtgläubigkeit zu tun.
Wir hingegen kehren nach einem kleinen Abstecher an den Hof der russischen Zarin am Samstag, den 14. August wieder nach Strassburg und zum Kardinal Rohan zurück, bevor wir uns dem grossen Drama Cagliostros in Paris nähern.
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