Eric Zem­mour dürfte anlässlich der anste­hen­den Präsi­dentschaftswahlen in Frankre­ich im kom­menden April mit sein­er am recht­sex­tremen Rand  ange­siedel­ten poli­tis­chen Posi­tion in der näch­sten Zeit auch in der Schweiz für die eine oder andere Schlagzeile sor­gen. Während die NZZ sich stirn­run­zel­nd über das Phänomen “Zem­mour” beugt, wid­mete ihm die Welt­woche nicht ganz zufäl­lig kür­zlich ein aus­führlich­es und wohlwol­len­des Inter­view.

Was in Frankre­ich poli­tisch läuft, kann die Schweiz allein schon aus his­torischen Grün­den nicht kalt lassen. Immer­hin hat dieses Land die eid­genös­sis­che Poli­tik vom 17. bis ins 19. Jahrhun­dert wie kein zweites geprägt. Wer­fen wir also einen Blick auf die Welt­sicht des Kan­di­dat­en:
Den Fem­i­nis­mus beze­ich­nete er als „Ver­nich­tungskrieg“ gegen den weißen het­ero­sex­uellen Mann, die Par­ität von Frauen und Män­nern will er als „pos­i­tive Diskri­m­inierung“ abschaf­fen. In der Fam­i­lien­poli­tik fordert er, dass das Gesetz Eltern zur Wahl „franzö­sis­ch­er Vor­na­men“ verpflichtet. Die franzö­sis­che Sprache sieht er durch die Ein­wan­derung von Maghre­bin­ern in Gefahr. Auch wür­den die öffentlichen Spitäler „von ein­er aus der ganzen Welt hergekomme­nen Bevölkerung belagert“. Die Wiedere­in­führung der Todesstrafe befür­wortet er aus philosophis­chen Grün­den („philosophique­ment favor­able“). Zudem äußerte er sich rel­a­tivierend bzw. ver­harm­losend über die Hal­tung des Vichy-Regimes gegenüber Juden. Die Unschuld von Alfred Drey­fus zog er 2014 in Zweifel. Obwohl jüdis­ch­er Abstam­mung, fordert Zem­mour dezi­diert ein „katholis­ches Frankre­ich“ und ver­weist dabei auf Polen, das den Katholizis­mus kon­se­quent vertei­di­ge. (Wikipedia)

Im Zusam­men­hang mit der “Reich­sidee” wollen wir uns aber mit einem anderen Aspekt näher beschäfti­gen: mit sein­er Sicht auf Frankre­ich als die auserko­rene “Grande Nation”. Wer einen Blick in die diversen Büch­er von Zem­mour wirft, stellt bald ein­mal fest, dass er in Sachen franzö­sis­che Kul­tur und Geschichte dur­chaus bele­sen ist, — kein Ver­gle­ich zu seinem Vor­bild Don­ald Trump, dessen gele­sene Büch­er wahrschein­lich an ein­er Hand abzuzählen sind. Zem­mour turnt dur­chaus vir­tu­os durch die Jahrhun­derte, zitiert noch und noch klas­sis­che Dichter, Philosophen, His­torik­er, Poli­tik­er, um das his­torische und kul­turelle Erbe Frankre­ichs erstrahlen zu lassen. Seine geschichtliche Apoth­e­ose find­et das Land unter Napoleon, dem genialen Staats­mann und Feld­her­rn, dessen segen­sre­iche Tätigkeit nur dank dem per­fi­den Albion ein unrühm­lich­es Ende fand.

Doch dieses grossar­tige Frankre­ich sieht sich heute radikal in sein­er Exis­tenz bedro­ht:
Frankre­ich ist der kranke Mann Europas. Wirtschaftswis­senschaftler bew­erten seinen Ver­lust an Wet­tbe­werb­s­fähigkeit. Essay­is­ten disku­tieren über seinen Nieder­gang. Diplo­mat­en und Sol­dat­en bekla­gen sich im Stillen über seine strate­gis­che Deklassierung. Psy­cholo­gen sind alarmiert über seinen Pes­simis­mus. Mei­n­ungs­forsch­er messen seine Verzwei­flung. Schöne See­len prangern seine Abkapselung an. Die jun­gen Akademik­er gehen ins Exil. Die frankophilsten Aus­län­der sind besorgt über den Ver­fall sein­er Schule, sein­er Kul­tur, sein­er Sprache, sein­er Land­schaften und sog­ar sein­er Küche. Frankre­ich macht Angst; Frankre­ich macht sich selb­st Angst. Frankre­ich ist immer weniger liebenswert; Frankre­ich liebt sich selb­st nicht mehr. Das süße Frankre­ich ver­wan­delt sich in das bit­tere Frankre­ich; unglück­lich wie Gott in Frankre­ich? (aus der Ein­leitung zu “Le sui­cide français”)

Wer etwas genauer hin­schaut und sich von sein­er Rhetorik nicht blenden lässt, stellt bald ein­mal fest, dass Zem­mour ein ideelles Frankre­ich beschwört, das es so nie gegeben hat. Mit grossen Pin­sel­strichen über­malt er all die sozialen und poli­tis­chen Span­nun­gen, die unvere­in­baren ide­ol­o­gis­chen und religiösen Gräben, welche die Geschichte und Kul­tur Frankre­ichs prägten. So gelingt es ihm, die “Com­mune” in einem Atemzug mit deren Scher­gen zu nen­nen, die katholis­che Kirche trotz Aufk­lärung und Rev­o­lu­tio­nen als Rück­grat des “echt­en” Frankre­ich zu sehen oder Charles de Gaulle und den Maréchal Pétain gle­ichzeit­ig zu bewun­dern.

Das wahre, echte Frankre­ich ist in der jüdisch-christlichen Kul­tur ver­wurzelt — was immer man sich darunter vorzustellen hat -, und jet­zt wird es bis ins Mark bedro­ht durch den Islam. Mit dieser ein­fachen Formel bedi­ent er Sehn­sucht, Über­legen­heits­ge­füh­le und Angst zugle­ich: Sehn­sucht nach ein­er heilen und beschützen­den Heimat, Über­legen­heits­ge­füh­le angesichts der “grandiosen Geschichte” Frankre­ichs, und Angst vor den frem­den Inva­soren, die diese Heimat Frankre­ich zer­stören wollen. Frankre­ich wird zu einem über­höht­en Sym­bol, mit dem man sich iden­ti­fizieren kann, und das es heute zu vertei­di­gen und zu ret­ten gilt.  Die “Recon­quête” Zem­mours ist das franzö­sis­che Pen­dant zu Trumps “Amer­i­ca first”.

Was hat das alles mit der “Reich­sidee” zu tun?

Ganz ein­fach: Wer nicht im “Reich der eige­nen Indi­vid­u­al­ität” ver­ankert ist und nicht auf dem “inneren Fels” ste­ht, von dem Jeshua ben Joseph sprach, und der allein wahre Sicher­heit ver­mit­telt, muss diese Sicher­heit im Äusseren suchen, — zum Beispiel in ein­er ide­al­isierten Vorstel­lung der eige­nen Heimat. Zem­mour bedi­ent diese Sehn­sucht auf raf­finierte Weise.

Damit set­zt er sich in radikalen Gegen­satz zur Vision Trox­lers ein­er erneuerten Schweiz, die auf der Mündigkeit und absoluten Selb­stver­ant­wor­tung des Indi­vidu­ums auf­baut und keine Feind­bilder braucht.

Die näch­ste Folge erscheint am Fre­itag, den 17. Dezem­ber

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