Immanuel Kant ging von einem Antagonismus der menschlichen Natur aus: Der Mensch habe einerseits die Tendenz, sich zu vereinzeln und zu isolieren, suche jedoch gleichzeitig die Gemeinschaft. Er habe also eine sowohl private und exklusive als auch eine soziale und inklusive Natur.
Der gleiche Antagonismus lebe auch in den souveränen Einzelstaaten. Er treibe sie
durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Not, die dadurch endlich ein jeder Staat, selbst mitten im Frieden fühlt, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen, Umkippungen, und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinauszugehen, und in einen Völkerbund zu treten; wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht oder eigener rechtlicher Beurteilung, sondern allein von diesem grossen Völkerbunde …, von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könne.
(Immanuel Kant, sämtliche Werke, Bd. 1, a.a.O., 231f)
Dieser Passus ist in zweierlei Hinsicht interessant:
● Kant realisierte, dass die “niemals nachlassende Zurüstung” hin zum Krieg automatisch zu einem Stolperstein für ein wirklich friedliches Zusammenleben wird. Heute wird angesichts der unsicheren geopolitischen Lage wieder überall massiv aufgerüstet. 13 Milliarden zusätzlich verlangte Armeechef Süssli kürzlich für die Schweizer Armee. Das Militärbudget der USA betrug allein im letzten Jahr 877’000’000’000 $, gefolgt von China mit 292’000’000’000 $.
Mehr Probleme, mehr Geld. So lässt sich das Ergebnis des jüngsten Berichts des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI zusammenfassen. Für das vergangene Jahr 2022 verzeichnet der Bericht einen Anstieg der globalen Rüstungsausgaben von 3,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. So stark war der Zuwachs seit Beginn der SIPRI-Berichte in den 1960er-Jahren noch nie.
● Kant war noch dem Hobbes’schen Weltbild verhaftet, wonach es Staaten und eine “starke Hand” unbedingt braucht, damit der “gesetzlose Stand der Wilden” überwunden werden kann. Er ist dafür aber insofern zu entschuldigen, als diese Ansicht auch heute noch in den meisten Köpfen fest verankert ist. Erst in jüngster Zeit haben Historiker und Ethnologen nachweisen können, dass die Notwendigkeit des Hobbes’schen “Leviathan” grundfalsch ist. Wem diese Einsicht neu ist, dem seien die Bücher von David Graeber/David Wengrow (Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit) und von Rutger Bregman (Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit)
bestens empfohlen.
Nichtsdestotrotz gilt es anzuerkennen, dass bis anhin die Schritte der Nationen hin zu einer verstärkten Zusammenarbeit erst durch bittere Erfahrungen möglich wurden:
Wenden wir die Kantische Idee eines solchen Antagonismus auf den Geschichtsverlauf an, so war es in der Tat nicht die Vernunft, sondern es waren die Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts, die zwei Weltkriege, die zu jenen »anfänglich unvollkommenen Versuchen« einer verfassten Weltgesellschaft veranlasst haben, zuerst der Gründung des Völkerbundes, dann der Vereinten Nationen. Hatte sich der 1920 gegründete Völkerbund noch an dem Gedanken einer Föderation souveräner und gleichberechtigter Nationalstaaten orientiert, die jedoch schon bald durch die nationalen Gegensätze gelähmt war, ging die Gründung der Vereinten Nationen im Jahre 1945 nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs einen Schritt weiter zu jener »vereinigten Macht«. Denn mit ihrem Beitritt haben die Staaten als Mitglieder die Verpflichtung übernommen, die in der Charta festgelegten Ziele der Erhaltung des Weltfriedens sowie der internationalen Zusammenarbeit zu fördern und zu festigen.
Das ist die Theorie. Die Praxis sieht zurzeit so aus, dass das Organ zu Wahrung des Weltfriedens, der Sicherheitsrat, zwar mit exekutiver Kompetenz ausgestattet (ist); aber die sogenannten “Grossmächte” sind in ihm als ständige Mitglieder des Rates durch ihr Vetorecht privilegiert. Die Vereinten Nationen stellen somit einen weiteren unvollkommenen Versuch dar, das Gegensätzliche, das alte Rechtsprinzip der Souveränität der Nationalstaaten mit dem neuen Prinzip einer unter Gesetzen vereinigten Macht, zu verbinden.
Heute zeigt sich die völlige Lähmung des Sicherheitsrats vor aller Augen. Steuern wir also nolens volens nach den beiden Katastrophen des 20. Jahrhunderts auf eine dritte zu? Sie wäre allerdings mit den vorausgegangenen nicht mehr zu vergleichen:
In dieser künftigen Katastrophe des 21. Jahrhunderts bündelten sich freilich nicht nur die politisch-militärischen Destruktionskräfte der Nationalstaaten, sondern auch die ökologischen Gefahrenpotentiale des Klimawandels und der Überforderung des Planeten sowie der angestaute soziale Sprengstoff zwischen der Masse der Armen und den wenigen Reichen: Das Verschwinden von Lebensräumen im steigenden Meer, die Verkarstung der Nutzflächen auf dem Land, der zunehmende Mangel an Trinkwasser, die daraus folgenden Massenemigrationen von Milliarden von Menschen sowie die Aufstände der Armen und Abgehängten in den verelendeten Slums der Megacities führen zu gewalttätigen, terroristischen und militärischen, Auseinandersetzungen, die sich schließlich der ›Selbstorganisation‹ des Rechtssystems entziehen. So verstanden müsste sich das in Jahrzehnten angesammelte Destruktionspotential erst entladen, damit aufgrund dieser durchlebten Katastrophenerfahrungen die Herrschaft eines globalen Rechts von der künftigen Menschheit allgemein anerkannt wird.
»Alle Menschen werden klug«, schrieb Voltaire, »die einen vorher, die anderen nachher«.
(Sämtliche Auszüge aus Alexander von Pechmann, Die Eigentumsfrage im 21. Jahrhundert)
Das Ziel wäre also dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen vorher klug werden …
Fortsetzung am kommenden Freitag, den 8. September
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