Udo, der Ostflüchtling
Udo wurde an Weihnachten 1946 in Ostdeutschland geboren. Ein Nachkriegskind der ersten Generation. Dabei waren die Häslers Schweizer! Auslandschweizer! Aber sie fühlten sich wie Deutsche. Doch in den Wirren der Nachkriegszeit, als Westdeutschland zum Wirtschaftswunder wurde und die Russen den Osten zur DDR machten, war es plötzlich wichtig, woher man stammte. Die Häslers waren keine Deutschen mehr, sondern Schweizer und nicht mehr willkommen.
Sie wurden mit ihren Kindern in den Westen und von dort in die Schweiz abgeschoben. Die Eltern fanden Arbeit und eine kleine Wohnung. Damals die perfekte Integration!
Doch die Häslers sprachen kein Schweizerdeutsch. Für uns waren sie klar Deutsche, mit dem üblen Nachgeschmack des 2. Weltkrieges.
Udo kam in der 4. Primar zu uns. Er war ein Gerechtigkeitsfanatiker! Er war überzeugt, dass alle etwas gegen ihn hätten und er sich verteidigen müsse. Es gab keine Woche, ohne dass er tobte. Er verfluchte, wer ihn nicht verstand, und das waren alle.
Als 1956 der Ungarnaufstand den Westen empörte, musste unsere Klasse eine Schweigeminute abhalten. Nicht aber Udo. Er stellte sich vor die Klasse: «Habt ihr auch für uns gebetet, als die Russen in unser Land einmarschiert sind?» Natürlich nicht, denn mit unserem Geschichtsunterricht waren wir ja erst bei den Pfahlbauern. Seine Demonstration blieb unverstanden.
Udo hätte schulisch gefördert werden müssen. Doch die Eltern waren überfordert und die älteren Geschwister hatten ihre eigenen Probleme. Die Schule versagte.
So kam es, dass Udo bald die Klasse verliess, doch mit seinen schlechten Noten keine Lehrstelle fand. Er wurde Hilfsarbeiter.
Was blieb, war sein Sinn für Gerechtigkeit. In seiner aufbrausenden Art eckte er aber überall an. Fatal wurden seine Wutausbrüche, wenn Alkohol im Spiel war.
Ich hörte nichts mehr von Udo. Doch bei der ersten Klassenzusammenkunft war er dabei, gut gelaunt und trocken. Er sei beim Blauen Kreuz, verkündete er. Auch arbeite er als Lagerist, und man sei zufrieden mit ihm. Beim zweiten Klassentreffen fünf Jahre später war er weiterhin stabil. Er war jetzt Götti und stolz auf diese Aufgabe. Das war ganz Udo mit seinem starken Sinn für Gerechtigkeit.
Udo starb einsam. In der Nacht vom 5. Juli 1997 blies Gott seine Lebenskerze aus. Er war gesund und noch voller Ideen.
Wenn ich heute an Udo denke, schäme ich mich über die damalige Zeit. Er war 1946 unschuldig und chancenlos in die Zeit des Nachhasses geboren worden.
Alex Gasser