Die Ver­schmelzung

Kafkas «Die Ver­wand­lung» ist nichts gegen die Geschichte, die ich euch erzählen möchte. Es war ein heiss­er Dien­stag anfangs Sep­tem­ber, als ich gemein­sam mit anderen Schoko­laden-Niko­lausen in eine Ablage der Birs­felder Migros gestellt wurde. Obwohl man uns bei den Küh­lkästen platzierte, wur­den eini­gen von uns die Knie weich; nicht aus Angst, dass uns kein­er kaufen würde, son­dern wegen des möglichen Aus­falls der Kühlschränke. Etliche Men­schen kauften uns schon Ende Sep­tem­ber, wohl in der Befürch­tung, dass es vor Wei­h­nacht­en keine Niko­lause mehr geben würde. Einen richti­gen Kaufrausch erlebten wir am 6. Dezem­ber, als unser Gestell regel­recht gestürmt wurde. Das “Wühltischge­habe” der Men­schen beschädigte bei eini­gen die Alu­folie, wodurch ihre Schoko-Kör­p­er sicht­bar wur­den. Ich dachte schon immer, dass uns dieses «Kleid» zum Ver­häng­nis wer­den kön­nte, aber was weiss ich schon! So wartete auch ich leicht enthüllt im Gestell darauf aus­gewählt zu wer­den. Alle meine Fre­unde fan­den trotz Beschädi­gun­gen ihren Platz im Warenko­rb, nur ich nicht. Kurz vor Wei­h­nacht­en pack­te mich dann doch noch eine Hand, legte mich in den Korb und nahm mich mit. Meine Reise endete jedoch schon im näch­sten Regal hin­ter blassen Teig­waren im Dunkeln. Eigentlich hat­te ich an einen Kauf gedacht, aber man stellte mich bei diesen “Ble­ich­lin­gen” ab.
Ich rutschte im Gestell immer weit­er nach hin­ten und bemerk­te lange nicht, dass mich jemand anstup­ste: “Hal­lo, wer bist denn Du in diesem hal­ben Kleid?” — “Ich war mal ein Schog­gi-Niko­laus, der nicht gekauft wurde.” — “Oje, mich hat man schon let­zte Ostern vergessen. Schön, dich ken­nen zu ler­nen.” Vor mir stand ein weiss­er Schoko­hase, dessen Ohr aus der Alu­folie ragte. In ihm fand ich einen Gle­ich­gesin­nten, mit dem ich schlussendlich das Regal ver­lassen kon­nte. Wir woll­ten uns so präsen­tieren, dass uns am näch­sten Tag jemand kaufte.
Am Mor­gen bemerk­ten wir jedoch, dass die ersten Son­nen­strahlen unsere Füsse zum Schmelzen gebracht hat­ten. Innert kürzester Zeit erwärmten sich auch Arme und Köpfe, so dass wir nicht mal mehr Zeit hat­ten, uns zu ver­ab­schieden.
Zu einem Kunst­werk geschmolzen fie­len wir endlich auf. Die Kun­den staunten über das neue Pro­dukt aus weiss­er und dun­kler Schoko­lade. Man beze­ich­nete uns als Schog­gi­laus, San­ti­haas, Osterk­laus oder Wei­h­nacht­shop­pel und alle freuten sich.
Und so kommt es nicht darauf an, wie lange man unbeachtet bleibt, son­dern was aus einem wird, wenn man endlich gese­hen wird.

Priska Cac­civ­io

Tür.li 17 (2024) von Ueli Kaufmann
Mattiello am Mittwoch 24751

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