Der Gesang

Ein stets etwas mür­risch­er Tram­chauf­feur kam eines Abends im Dezem­ber mit seinem Tramkurs zu ein­er Hal­testelle in einem Aussen­quarti­er. Er erblick­te eine kleine Gruppe aus etwa 11-jähri­gen Mäd­chen und Buben, die zusam­men eine kleine Tanne in einen eben­falls kleinen Pflanzenkü­bel steck­ten, der unter den Arkaden der Häuser stand. Instink­tiv brem­ste er seinen Tramzug ab und liess ihn langsam in die Hal­testelle rollen.

Die Kinder­gruppe, beste­hend aus drei Mäd­chen und fünf Buben, hat­te nun die kleine Tanne, die bere­its mit ein paar bun­ten Kugeln geschmückt war, im Pflanzenkü­bel fest ver­ankert. Der Tramzug stand mit­tler­weile still und die Türe hin­ter dem Führer­stand öffnete sich. Es stiegen zwei ältere Damen aus. Die Kinder­gruppe stand nun rund um den Kübel und stimmte das Lied ‘Oh Tan­nen­baum’ an. Der Tram­chauf­feur hielt einen Moment inne und lauschte. Die Türe hin­ter seinem Führer­stand war immer noch offen, so dass er den Gesang voll mit­bekam.

Unwillkür­lich taucht­en in seinem Unter­be­wusst­sein einige Erin­nerun­gen an die Wei­h­nacht­en auf, die er in sein­er eige­nen Kind­heit erlebt hat­te. Eigentlich waren es keine so schö­nen Erin­nerun­gen, er hat­te das Wei­h­nachts­fest nie richtig gemocht. Es war jew­eils ein Fam­i­lien­tr­e­f­fen mit viel Blabla und er hat­te immer dabei sein müssen, ob er wollte oder nicht. Und beim Verteilen der Gschäng­gli waren für ihn immer ein paar Sock­en und/oder ein Pullover dabei, den die Gross­mut­ter gestrickt hat­te. Natür­lich hat­te er gehofft, dass ein­mal etwas unter dem Baum lag, das er sich ins­ge­heim gewün­scht hat­te. Etwas Tech­nis­ches beispiel­sweise oder etwas, wom­it er sich wirk­lich beschäfti­gen kon­nte. Doch immer wieder war es das­selbe: ein­fach lang­weilig.

Das Lied der Kinder­gruppe war schon nach der 2. Stro­phe zu Ende. Der Tram-chauf­feur schloss die noch offene vordere Türe und fuhr wieder los. Der fröh­liche und unbeschw­erte Gesang der Kinder­gruppe hallte noch lange in seinen Ohren nach. Während­dessen geschah in seinem Inneren etwas, das ihn völ­lig verän­derte. Er bemerk­te plöt­zlich die beleuchteten Bäum­chen und Sternchen an den Fen­stern der Wohn­häuser. Sie schienen so mild und friedlich auf die Strasse – ihm wurde warm um sein Herz.

Aus dem bekan­nt mür­rischen Tram­chauf­feur wurde ein umgänglich­er und geschätzer Kol­lege.

Heinz Tschudin

Trost
Tür.li 11 (2024) von Regula Meschberger

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