Um den möglichen gemeinsamen Wurzeln der römischen Saturnalien und dem mittelalterlichen Narrenfest etwas näher zu kommen, lohnt sich ein Blick auf den Rundbrief eines gelehrten Doktors der Sorbonne, der es wagte, der Verdammung der Narrenfeste durch die Kirchenhierarchie eine andere Interpretation gegenüberzustellen:
Wir treiben alle diese Dinge nicht im Ernst, sondern nur zum Spiel, um uns nach alter Sitte zu belustigen, damit die Torheit, die uns naturgegeben ist und angeboren scheint, sich mindestens einmal im Jahr austobt und verflüchtigt. Würde man nicht manchmal den Zapfen herausziehen, um den Weinfässern Luft zu verschaffen, so würden sie bersten. Nun, auch wir sind alte Flaschen und schlecht gefügte Fässer, die der Wein der Weisheit zum Platzen brächte, wenn wir ihn durch ständige fromme Ergebenheit im Dienste Gottes zum Kochen bringen würden.
Etwas anders formuliert heisst das wohl: Manchmal brauchte das einfache Volk und der einfache Klerus offensichtlich wenigstens einmal pro Jahr die Möglichkeit, all die rigiden Moralvorstellungen und den repressiven Aspekt der Kirchenhierarchie (im alten Rom: die Herrschaft) über den Haufen zu werfen. Dass die mittelalterliche Kirche neben den wundervollen Blüten, die sie z.B. in der Mystik hervorbrachte, auch eine höchst dunkle Seite aufwies — man erinnere sich an Umberto Eco’s “Der Name der Rose” — muss wohl kaum mehr unterstrichen werden.
Und sie ist beileibe nicht verschwunden. Es genügt, die Bücher “Das Kreuz mit der Kirche” von Karl Heinz Deschner, “Kleriker” von Eugen Drewermann oder “Das Christentum und die Angst” des Zürcher Pfarrers und Psychiaters Oskar Pfister zu lesen, um zu realisieren, welche seelischen Verheerungen eine falsch verstandene religiöse Moral noch heute ausrichten kann.
Dass das Narrenwesen in der mittelalterlichen Kirche aber nicht nur auf die Narrentage zwischen Weihnachten und den Dreikönigstag beschränkt war, zeigt ein anderes Phänomen: die Existenz der sog. Galiarden oder Vaganten. Das waren Geistliche, welche die Welt als Gaukler durchstreiften und sich im 12. und 13. Jahrhundert über ganz Europa, besonders aber in Deutschland und Frankreich verbreiteten. Sie gaben sich als Schüler eines sagenhaften Bischof Golias aus, dem zahlreiche zotige Lieder zugeschrieben wurden.
Dass es keine Einzelfälle waren, zeigt z.B. ein Konzil in Cahors, das den Kirchenleuten offiziell verbot, den Beruf des Gauklers, Goliarden und Narren auszüben (quod clerici non sint joculatores, goliardi, seu buffones). Das Konzil von Treves von 1227 wies die Pfarrer an, Goliarden und anderen fahrenden Scholaren zu verbieten, nach dem Sanctus, dem Agnus Dei oder während der heiligen Messe Lieder zu singen, da sie die Empörung der versammelten Gläubigen hervorriefen. 1289 verlangte die Diözese von Rodez, jene Priester hart zu bestrafen, die trotz dreimaliger Verwarnung ein Jahr oder kürzer als Goliarden oder Komödianten gelebt hatten!
Maurice Lever schreibt in seinem Buch “Zepter und Schellenkappe” dazu:
Waren die Goliarden Rebellen und Protestler? — Zweifellos. Und ungebildet? Keineswegs. Diese Leute hatten eine gute Schule hinter sich, hatten eine solide Ausbildung durchlaufen und auch durchaus gute Manieren gelernt. Nur beschlossen sie eines schönen Tages, alles hinzuwerfen und mit dem Bündel über der Schulter auf gut Glück loszuziehen, weil sie die Landstraße und den frischen Wind der Ferne dem Weihrauchgeruch der Sakristeien vorzogen.
Wir kennen heute die Arbeiterpriester. Eine ähnliche Sonderrolle spielten damals diese fahrenden Kleriker, die das Leben von Minnesängern führten und von Schloß zu Schloß zogen, wo sie ihre Verse vortrugen oder ihre Farcen vor dem jeweiligen Herrn aufführten (manchmal sogar vor einem Kirchenfürsten), der sie mit einem Almosen, einem Napf voll Essen oder einem Bett im Stroh für die Nacht belohnte. Am nächsten Tag aber zogen sie von neuem auf die Landstraße, neuen Abenteuern entgegen…
Und dann fährt er gleich mit ein paar ketzerischen Fragen weiter:
Folgten diese fahrenden Mönche, die den kalten heiligen Stätten der Christenheit den Rücken kehrten, nicht dem Beispiel von Christus selbst, der die Pracht der Tempel verließ, um ein Leben als herumziehender Wanderprediger zu führen und auf seinem Weg das kleine Volk von Galiläa aufzurütteln ? Wer verkörpert besser als Christus das Ideal des heiligen Possenreißers, der Reichtum und Macht verachtet und die Frohe Botschaft in einfachen, naiven Gleichnissen, gewürzt mit einer guten Dosis Humor, verkündet?
Wie die Goliarden wurde auch Jesus manchmal von reichen Leuten eingeladen, um zur Freude des Hausherrn Geschichten zu erzählen oder Wunder zu vollbringen. Seine sarkastischen Ausfälle gegen die Mächtigen zeugen durchaus von satirischer Begabung. Und schließlich gleicht auch sein Tod dem eines Karnevalskönigs, begrüßt vom Gelächter der Menge, zu deren Belustigung er ein Schild trägt, das ihn als »König der Juden« verspottet.
Ketzerisch? Erinnern wir uns: “Ketzer” waren jene christlichen Gläubigen — z.B. die Albigenser, Katharer, Bogomilen, Lollarden, Wiedertäufer — die von den etablierten Kirchen jeweils gnadenlos verfolgt wurden …
Die Goliarden haben sich übrigens mit einer Schriftensammlung unsterblich gemacht, nämlich mit den berühmten Carmina Burana. Sie zeugen mit ihren Anspielungen auf Vergil und Ovid von der grossen Gelehrsamkeit, dem soliden theologischen Wissen und der eleganten Rhetorik dieser klerikalen Vaganten.
Bleibt nur noch zu erwähnen, dass die gleichen kirchlichen Würdenträger, welche die Abschaffung der Narrenmesse und die Exkommunizierung der Goliarden betrieben, oft ihrerseits an ihrem Hofe neben Jagdhunden, Falken, Zwergen, Musikern, Tänzern einen Narren hielten. Definitiv — eine närrische Welt 😉
Das Thema Narrenwesen und Religion wird uns weiterhin beschäftigen. In der nächsten Folge wollen wir uns aber dem Auftreten des Narren in der mundanen Welt widmen, und dies wie immer
am kommmenden Samstag, den 27. März!